| # taz.de -- Klimawandel-Film „Chasing Ice“: Botschaften aus dem Eis | |
| > „Chasing Ice“ macht auf nie zuvor gesehene Weise die Auswirkungen des | |
| > Klimawandels im Norden sichtbar. Die Filmrezension eines Klimatologen. | |
| Bild: … so etwas im Film einzufangen, stellte Technik und Mensch vor große H… | |
| Im Jahr 2006 flog der studierte Geowissenschaftler und bekannte | |
| Naturfotograf James Balog nach Island, um für den New Yorker Gletscher zu | |
| fotografieren. Im Jahr darauf kehrte er für eine National | |
| Geographic-Titelgeschichte zurück und war geschockt von den Veränderungen, | |
| die er sah. Es war der Beginn einer Besessenheit. | |
| Herausgekommen ist, nach fünf Jahren Arbeit, vielen Rückschlägen und dem | |
| Kampf mit Naturgewalten und den Grenzen der Belastbarkeit von Technik und | |
| dem eigenen Körper, ein grandioser, wichtiger und bewegender Film: „Chasing | |
| Ice“ (Kinostart am Donnerstag). | |
| „Er hat sich in das Eis verliebt“, sagt Balogs Assistent zu Beginn des | |
| Films. Und Balog selbst erzählt, wie ihn in Island das Gefühl beschlich, | |
| auf der Spur von etwas viel Bedeutenderem zu sein, das noch vor ihm lag. | |
| Dieses Gefühl sollte nicht trügen. Gletscher sind Frühwarnsysteme wie die | |
| Kanarienvögel im Kohlebergwerk. | |
| Balog gründete den Extreme Ice Survey: ein Projekt, um mit zahlreichen | |
| automatischen Kameras die Gletscher in Island, Grönland und Alaska im | |
| Zeitraffer zu erfassen. Welche Schwierigkeiten vor ihm lagen, ahnte er | |
| damals nicht. | |
| Der Film (unter der Regie von Jeff Orlowski) erzählt die Geschichte des | |
| Extreme Ice Survey, und auf einer Ebene funktioniert er als Abenteuerfilm: | |
| wie Balog und sein Team erst die Technik selbst entwickeln müssen, wie sie | |
| mit Stürmen und Kälte in der Arktis kämpfen, wie sie ein halbes Jahr später | |
| feststellen müssen, dass die Kameras versagt haben. | |
| Und der Film zeigt grandiose Naturaufnahmen, wie man sie vom Kameramann | |
| David Breashears bereits kennt, der vor allem für seine Mount-Everest-Filme | |
| berühmt ist (auf dessen Gipfel er schon fünf Mal war). Besonders bewegend: | |
| die Nachtaufnahmen der Arktis unter glitzernden Sternen und grünen | |
| Polarlicht-Schleiern. Der Film hat bereits mehr als 30 Preise bei Festivals | |
| gewonnen; das für Chasing Ice komponierte und von Scarlett Johansson | |
| gesungene Lied „Before My Time“ wurde für einen Oscar nominiert. | |
| Doch es geht bei „Chasing Ice“ um viel mehr als Preise: um den sichtbaren, | |
| fühlbaren Beleg der globalen Erwärmung. Kürzlich ist wieder ein Bericht des | |
| Weltklimarats IPCC erschienen, der fünfte seit 1990. Dort kann man zum | |
| Beispiel lesen, dass die großen Eismassen auf Grönland und der Antarktis im | |
| letzten Jahrzehnt bereits mehr als fünfmal so viel Masse verloren haben wie | |
| noch in den 1990er Jahren. | |
| Das große Schmelzen an den Polen betrifft uns alle, treibt es doch auch an | |
| unseren Küsten den Meeresspiegel in die Höhe. Nach 2.000 Jahren Stabilität | |
| steigt er inzwischen immer schneller. Selbst der konservative IPCC rechnet | |
| jetzt mit einem weltweiten Meeresspiegelanstieg um bis zu einen Meter bis | |
| zum Jahr 2100. | |
| ## Der sichtbare Beweis | |
| Aber trockene Statistik ist Balogs Sache nicht – der übrigens selbst früher | |
| skeptisch gegenüber den Ergebnissen der Klimaforschung war, bevor er die | |
| Auswirkungen der Erwärmung mit eigenen Augen gesehen und sich intensiver | |
| damit beschäftigt hatte. Die Leute brauchen nicht mehr Statistiken, sagt | |
| Balog heute. „Sie brauchen einen glaubwürdigen, verständlichen, sichtbaren | |
| Beweis. Etwas, das sie in der Magengrube trifft.“ | |
| Damit dürfte Balog wohl recht haben – auch wenn ich als Klimaforscher | |
| natürlich hoffe, dass Menschen auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse mit | |
| vorausschauendem Handeln reagieren können und nicht erst abwarten müssen, | |
| bis die Katastrophe für jedermann sichtbar ist. | |
| Vor einigen Wochen war ich mit Filmemachern und Forschern bei einem | |
| Workshop in Reykjavík zum Thema Kino und Klimawandel, auf dem die | |
| amerikanische Sozialforscherin Kari Norgaard über unsere seltsame | |
| kollektive Problemverleugnung sprach. Dabei meinte sie nicht etwa die | |
| ideologisch verblendeten Klimaskeptiker mit ihren kruden Thesen. | |
| Sie meinte die Tatsache, dass die meisten von uns, obwohl wir es eigentlich | |
| besser wissen, unseren Alltag wie in einer Parallelwelt ohne Klimakrise | |
| leben. Wir tun so, als gebe es sie nicht, obwohl es längst einen | |
| 98-prozentigen Konsens unter Forschern darüber gibt und auch die Auswege | |
| bekannt sind. Wir reden mit Freunden oder in der Familie kaum darüber – und | |
| wenn das Thema doch aufkommt, wird es schnell mit einer flapsigen Bemerkung | |
| beendet, wie Norgaard aus zahlreichen Interviews im Rahmen ihrer Forschung | |
| erfahren hat. | |
| ## Ein Gorilla im Zimmer | |
| In dieser Parallelwelt erscheinen die Stromkosten wichtiger als der | |
| schnellstmögliche Ausstieg aus den fossilen Energien. Der Klimawandel ist | |
| der Gorilla im Zimmer, den wir alle angestrengt ignorieren. | |
| Balog ist es allen Schwierigkeiten zum Trotz am Ende gelungen, spektakuläre | |
| Zeitrafferfilme des Gletscherschwundes zu machen – dank seiner | |
| Besessenheit, die mich an Charles Keeling erinnert, der in den 1950ern als | |
| ähnlich besessener Einzelkämpfer die Präzisionsmessungen von Kohlendioxid | |
| in unserer Atmosphäre begann, die später zur wohl wichtigsten Datenkurve | |
| des 20. Jahrhunderts wurden. Balogs Aufnahmen könnten für die öffentliche | |
| Wahrnehmung eine ähnliche historische Bedeutung entfalten wie Keelings | |
| Messungen für die Wissenschaft. | |
| Ich kann mich noch genau erinnern, wo ich die ersten dieser Aufnahmen sah. | |
| Das war im Sommer 2008 auf einem Schiff in der Arktis, Obama war als | |
| Präsidentschaftskandidat und Hoffnungsträger für einen Politikwechsel | |
| angetreten, und einige Forscher wurden auf diesem Schiff mit Vertretern der | |
| US-amerikanischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu einer Woche | |
| voller Diskussionen zusammengebracht. Dabei wurden auch erste Filme vom | |
| Extreme Ice Survey gezeigt, und ich fand sie atemberaubend – obwohl mir die | |
| Fakten lange bekannt waren. | |
| ## Das große Kalben | |
| Zu den filmischen Höhepunkten von „Chasing Ice“ gehört das größte | |
| Gletscherkalben, das je auf Film eingefangen wurde, aufgenommen am | |
| Ilulisat-Gletscher auf Grönland. Man muss das einfach auf großer Leinwand | |
| im Kino gesehen haben, wie Eismassen von der Größe von Manhattan tosend | |
| auseinanderbrechen und ins Meer stürzen. | |
| Das Bedeutende an diesem Film ist aber, dass ihm das schwierige Kunststück | |
| gelingt, dem Zuschauer den Klimawandel ein gutes Stück erlebbar und | |
| nachfühlbar zu machen. Der Film macht einem auch emotional bewusster, | |
| welche Veränderungen von geologischem Ausmaß wir derzeit erleben und | |
| verursachen. Das ist Balogs erklärte Hoffnung: dass uns dies gerade noch | |
| rechtzeitig bewusst wird. Wer weiter so tun möchte, als hätten wir kein | |
| drängendes Problem, der sollte sich diesen Film nicht ansehen. Alle anderen | |
| – vor allem Menschen, die Kinder oder politische Verantwortung haben – | |
| sollten ihn kennen. | |
| Am Ende des Films sagt James Balog: „Wenn meine Töchter mich in zwanzig | |
| oder dreißig Jahren fragen: Was hast du getan, als die Erde sich aufheizte | |
| und ihr wusstet, was auf uns zukommt? Dann möchte ich sagen können: Ich | |
| habe getan, was ich konnte.“ | |
| 7 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Rahmstorf | |
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