# taz.de -- Dokumentarfilm „Vaters Garten“: Kästchen für alles | |
> Peter Liechti bleibt beim Unter-die-Lupe-Nehmen des Kleinbürgertums | |
> persönlich: In „Vaters Garten“ filmt er seine Eltern und zwei | |
> Plüschhasen. | |
Bild: Max Liechti weigert sich, seiner Hedy einen erleichternden Badewannengrif… | |
An Filmhochschulen ist es gang und gäbe, dass Studierende Dokumentarfilme | |
über ihre eigene Familie drehen. Läuft die Sache gut, ist der rite de | |
passage ins Erwachsenenalter zweifach besiegelt. | |
Während der Dreharbeiten lernen die Filmemacher, besser zu verstehen, woher | |
sie kommen und wer sie sind, und zu diesem therapeutischen Effekt gesellt | |
sich im Glücksfall ein gelungener Diplomfilm. | |
Schon lange im Geschäft dagegen ist der Schweizer Filmemacher Peter | |
Liechti. Er hat, um nur wenige Beispiele zu nennen, aus dem Versuch, sich | |
das Rauchen abzugewöhnen, den Film „Hans im Glück“ gewonnen (2004). Sein | |
Experimentalfilm „The Sound of Insects“ (2009) greift die wahre Geschichte | |
eines Japaners auf, der sich mit der Absicht in den Wald zurückzog, dort zu | |
verhungern (und dies dann auch tat, wobei er in einem Notizbuch akribisch | |
verzeichnete, was er erlebte). | |
Mit 62 Jahren ist Liechti zudem in einem Alter, in dem Studienabschluss und | |
Eintritt ins Erwachsenenalter lange zurückliegen. Gleichwohl hat er nun | |
einen Film – und was für einen Film! – mit seinen und über seine Eltern | |
gedreht: „Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern“. | |
## Fauchendes Bügeleisen | |
Liechtis Eltern gehen auf die 90 zu, seit mehr als sechs Jahrzehnten sind | |
sie verheiratet, sie haben neben dem Sohn ein weiteres Kind, eine Tochter. | |
Durch die großen Fenster ihrer Etagenwohnung in St. Gallen geht der Blick | |
über Häuser und Hügel. Materieller Mangel herrscht nicht, auch wenn die | |
Erinnerung daran sich manchmal bemerkbar macht, etwa dann, wenn Banknoten | |
säuberlich eingeteilt werden. Es gibt ein Kästchen für Versicherungen, ein | |
Kästchen für Geschenke, ein Kästchen für Kleidung. | |
Man sieht, wie die beiden auf dem Sofa oder am Esstisch sitzen, wie sie | |
Mahlzeiten zubereiten – in einer großartigen Sequenz montiert Liechti | |
Bilder von Braten, Eisbein und Wurst in dichter Folge aneinander. Einmal | |
geht der Vater zum Friseur, um sich den Nacken ausrasieren zu lassen, dann | |
wieder harkt er die Beete im Garten. Die Mutter liegt oft auf dem Sofa und | |
döst. | |
Einmal geht sie durch einen Supermarkt, der viel zu groß für ihre alten | |
Beine ist. Oder sie bügelt die Hemden des Vaters, der großen Wert auf eine | |
ordentliche Erscheinung legt. Das Dampfbügeleisen faucht auf der Tonspur | |
und fährt gefährlich nah an die Kamera heran. | |
Wer nun denkt, das sei zu banal, als dass es einen Film füllte, der irrt. | |
Je tiefer man ins Gewebe des Alltags eindringt, umso merkwürdigere Dinge | |
kommen zum Vorschein. Und Liechti geht so beharrlich ans Werk, dass er den | |
kleinbürgerlichen Normalzustand dort zu fassen bekommt, wo er rissig wird, | |
wo das Unheimliche im Heimeligen aufscheint. Sobald er mit seiner Kamera an | |
eine Grenze stößt, entscheidet er sich für einen frappierend plausiblen | |
Kunstgriff: An die Stelle der dokumentarischen Szenen tritt die schwarz | |
verhangene Bühne eines Handpuppenstudios, darin agieren zwei Hasen aus | |
Plüsch. | |
## Mutters eigenes Konto | |
Das akkurat gebügelte Hemd des Vaters und die Schürze der Mutter weisen die | |
Hasen als die Personen aus, die man aus dem übrigen Film kennt. Sie | |
sprechen nicht länger Schweizer-, sondern Hochdeutsch, die Stimmen sind | |
andere, aber die Sätze, die sie sagen, sind original. Und die Verzagtheit | |
des kleinbürgerlichen Lebensentwurfs, den Liechtis Eltern haben, passt gut | |
zur Verzagtheit, die man Hasen zuschreibt. | |
Auch Liechti taucht als Handpuppe auf, in Menschengestalt, in Augenblicken, | |
in denen es besonders arg zugeht. Dann rastet das Handpuppen-Alter-Ego zu | |
den dissonanten Kompositionen des Schweizer Musikers Dominik Blum aus, | |
indem es wild den Kopf gegen eine Tischplatte schlägt. | |
Was wohl jeder andere auch täte. Denn vieles von dem, was die Eltern | |
erzählen, macht perplex. Der Vater hängt einer so traditionellen | |
Vorstellung von Rollenverteilung an, dass er noch immer zornig wird, wenn | |
er davon spricht, wie sich die Mutter ein eigenes Konto eingerichtet hat. | |
Das sei doch gar nicht ihr Geld, ereifert er sich, er habe doch für sie in | |
die Rentenkasse eingezahlt. Hinzu kommt das Bemühen, den Schein zu wahren, | |
koste es, was es wolle. Einfache Erleichterungen des Alltags werden | |
verworfen. | |
Obwohl es der Mutter hülfe, über der Badewanne einen Griff anzubringen, | |
weigert sich der Vater kategorisch, weil er, wie er sagt, für die paar | |
Jahre, die noch bleiben, keine Löcher in die Fliesen bohren mag. Was sollen | |
denn die, die nach ihnen in die Wohnung einziehen, denken, wenn die Fliesen | |
nicht intakt sind. In einer Szene geht es um die Zeit des Zweiten | |
Weltkriegs. Der Vater erzählt, wie er damals an der Grenze patrouillierte, | |
weil er verhindern wollte, dass Flüchtlinge aus Deutschland in die Schweiz | |
hineingelangten. Ob er von den Konzentrationslagern der Nazis gewusst habe, | |
fragt Liechti aus dem Off. Ja, sagt der Vater, das habe er wohl. | |
## Inbrünstiges Gebet | |
Die Mutter wiederum hat einen Hang zur Depression, dem sie beikommt, indem | |
sie sich in übersteigerte Religiosität flüchtet. Was in der Szene gipfelt, | |
in der Liechti seine Schwester und seine Mutter beim inbrünstigen Gebet | |
filmt. Er fragt, ob sie ans Paradies glauben. Ja, sagen Mutter und | |
Schwester. Ob sie glauben, dass sie nach ihrem Tod ins Paradies kommen? Ja, | |
sagen Mutter und Schwester. Was sie denken, wohin er nach seinem Tod kommt? | |
Die Pause, die auf diese Frage folgt, ist ein schaurig-großartiger Moment | |
für den Film und ein ziemlich bitterer für die Familie Liechti. | |
Doch bevor man es sich allzu gemütlich macht in der Perplexität, bevor man | |
sich wohligem Grusel über so viel geistige Enge und Kleinbürgerstarrsinn | |
überlässt, kommt es zu einer raffinierten Verschiebung. Liechti liefert | |
seine Eltern nicht ans Messer, er gibt sie nicht unserem Blick oder gar | |
unserem Bedürfnis, uns auf Kosten anderer weltoffen zu wähnen, preis, er | |
macht vielmehr – nicht zuletzt, indem er ihren leisen Widerstand gegen das | |
Gefilmtwerden filmt – anschaulich, dass diese beiden Menschen ernst zu | |
nehmen sind: mit ihren aus der Zeit gefallenen Wertvorstellungen, ihren | |
Verblendungen, ihrem Kleinkrieg, aber auch mit ihrem Zusammenhalt und einer | |
Zuneigung, die Alltag und Zeitläufte überstanden hat. | |
In einer der letzten Einstellungen setzt sich der Regisseur, sonst nur in | |
Gestalt der Handpuppe oder als Stimme aus dem Off präsent, an der Seite | |
seines Vaters ins Bild, in einer komplizierten Anordnung: Liechti taucht | |
samt seiner Kamera in der linken Hälfte des Badezimmerspiegels auf, der | |
Vater in der rechten. In diesem Bild sind Nähe und Distanz zu gleichen | |
Teilen enthalten. | |
21 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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