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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Hüter des Meißels
> Nietzsche forderte, man müsse an einer Seite Prosa arbeiten wie an einer
> Bildsäule. Doch wo man hinschaut: Schnitzer beim Schreiben, Patzer beim
> Denken.
Bild: Manche Dichter schreiben sich einen Knoten in die Zunge.
Die Dichter sind die Hüter der Sprache, die Schatzmeister des Wortes und
die Bewahrer des guten und richtigen Deutsch: Diese lustige alte Auffassung
machte vermutlich in den fünfziger, sechziger Jahren ihren letzten Mucks.
Falsch war sie bereits damals und vielleicht schon früher.
Oder ist es richtig, wenn Friedrich Schiller in seiner Geschichte über ein
„Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache“ von einem Marquis schreibt:
„Er rufte einen seiner Leute“? Oder wenn Bertolt Brecht im
„Mann-ist-Mann-Song“ so loslegt: „Ach, Tom, bist du auch beir Armee, beir
Armee? / Denn ich bin auch beir Armee, beir Armee!“?
Friedrich Nietzsche forderte, man müsse an einer Seite Prosa arbeiten wie
an einer Bildsäule; doch ihm selbst ist der Meißel gelegentlich
ausgerutscht. So feierte er Zarathustra in seiner Schrift „Ecce homo“ als
die „höchste Art alles Seienden“ und die „umfänglichste Seele“, „die
nothwendigste“, „die weiseste Seele“ und endlich als „die sich selber
liebendste“. Chapeau!
Solche zum Grinsen reizendsten Schnitzer können beir Arbeit anr Sprache
wohl mal passieren. Und quod licet Jovi, licet erst recht Bovi: Wie
Schiller in den Wald hineinrufte, schallt es heute aus den Zeitungen
heraus. „Danach gedeihte der Baum reichlich zehn Jahre“, schreibte die
Chemnitzer Freie Presse. „Während im vergangenen Jahr das Neujahrsbaby
pünktlich am 1.1. geboren wurde, schreite es 2013 erst am 4. Januar im
Kreißsaal“, leste man in der Bravo, und der Greifswalder Blitz weißte
mitzuteilen: „In Greifswald treibte ein Pärchen sein Unwesen“. Die
Märkische Allgemeine bringte die Nachricht: „Derweil schlägte die Affäre
auch politisch“ hohe Wellen“, und der Fränkische Tag schlägte mit der
Schlagzeile zu: „Außenspiegel gestriffen und weitergefahren“.
## Wiederauferstehung des Hauptmanns
Fürwahr: „Das Elend, das nackte Eleden“ packt einen! (Dies en passant zum
Thema Druckfehler, er steht in Iwan Gontscharows Erzählung „Die schwere
Not“, übersetzt von Peter Urban.) Aber ist es außer mit der Sprache nicht
auch mit der Sache oft ein Eleden? Friedrich Schiller etwa lässt im
„Wilhelm Tell“ den Landvogt Geßler den berühmten Apfel direkt vom Baum
pflücken – im November! Georg Wilhelm Friedrich Hegel hingegen weiß in
seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ so gut Bescheid,
dass er nicht nur behauptet: „Eine Vergleichung der nordamerikanischen
Freistaaten mit europäischen Ländern ist unmöglich“, sondern gleich im
Anschluss, beginnend mit dem begründenden „denn“, mehrere Vergleiche
anstellt.
Herbert Rosendorfer macht in seiner Erzählung „Mommer und Gottlieb“
(enthalten im 1984 bei dtv erschienenen Erzählband „Das Zwergenschloss“)
aus Letzterem auf halber Strecke einen Gottfried; Daniel Defoe lässt seinen
Robinson Crusoe nach dem Schiffbruch nackt zum Wrack schwimmen und sich
dort die Taschen mit Zwieback vollstopfen; Arthur Conan Doyle wiederum hat
Dr. Watson bei einem Afghanistanfeldzug eine Schussverletzung beibringen
lassen, die sich laut der „Studie in Scharlachrot“ in der Schulter
befindet, im Roman „Im Zeichen der Vier“ aber im Bein.
Das alles ist Pillepalle gegen Bernhard Kellermann, dem es in seinem Roman
„Der 9. November“ gelingt, den Hauptmann von Dönhoff noch zweimal auftreten
zu lassen, nachdem er gestorben ist. Kellermann kann sich auf große
Vorbilder berufen, das größte: Homer. Im fünften Gesang der „Ilias“ fäl…
der Paphlagonenkönig Pylaimenes, im 13. weilt er wieder unter den Lebenden;
im neunten Gesang wird der griechische Bogenschütze Teukros tödlich
verwundet, im zwölften stürzt er sich pumperlgesund ins Gemetzel.
## Ist die Zukunft der deutschen Sprache brünett?
Apropos tot: Die Krimiautorin Sabine Deitmer platziert in „Kalte Küsse“
einen Mord akkurat auf den 31. Juni. Dass es in Krimis mitnichten auf jedes
Detail ankommt, kann man aber schon bei dem großen Raymond Chandler lernen,
genauer gesagt: beim etwas kleineren Hans Wollschläger, der die
Kriminalerzählung „Blutiger Wind“ laut Diogenes-Verlag „Aus dem
Amerikanischen“ übersetzt hat, vermutlich ins Europäische. Wollschläger:
„Sie stand nur da, eine schlanke, hungrige Brünette, mit rot geschminkten
Backenknochen, dichtem schwarzen Haar“.
Muss man also für die Zukunft der deutschen Sprache brünett sehen?
Keineswegs, meine lieben, ja meine das Deutsche und die Literatur
liebendsten Wahrheit-Leser! Doch seien Sie fortan aufmerksam beir Lektüre,
arbeiten auch Sie anr Sprache und seien Sie aufr Hut. Zur Probe eine kleine
Knobelei! In Woody Allens Krimiparodie „Knobeleien mit Inspektor Ford“ (aus
dem Sammelband „Ohne Leit kein Freud“, deutsch von Benjamin Schwarz) steht
der Satz: „Gerade ehe er das Bewusstsein verlor, meinte er eine
Männerstimme haben sagen hören (?)“.
Wäre er bei Bewusstsein geblieben, hätte er wohl gemerkt, dass „haben sagen
hören“ falsch ist. Doch wie lautet es richtig? „Meinte er eine Männerstim…
haben sagen zu hören“? „Haben hören gesagt“? „Habe sagen gehört zu h…
„Habe sagen gehört zu haben sagen“? Was immer Sie jetzt sagen zu hören
meinen, Sie haben das Wort – vielleicht sogar das richtige!
7 Dec 2013
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Wahrheit
Sprache
Nietzsche
Sprache
deutsch
Sigmar Gabriel
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Wahrheit
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