# taz.de -- Die Wahrheit: Richtigstes Deutsch | |
> In der deutschen Sprache vollzieht sich ein kontroverser Wandel bei | |
> zweifelhaften Fällen – besonders in paradoxen Steigerungsweisen. | |
Bild: Manch angeblicher Deutschmeister spricht mit gespaltener Zunge. | |
Die Zeiten ändern sich, und die Sprache ändert sich mit ihnen. Oft ist es | |
schwer zu entscheiden, ob eine veränderte oder erweiterte Wortbedeutung | |
oder eine grammatische Neuheit sinnvoll und willkommen oder überflüssig, | |
wenn nicht verderblich ist. | |
Die „Expertise“ zum Beispiel, eigentlich das Expertengutachten, bezeichnet | |
zumindest in der taz mittlerweile auch das bloße Expertenwissen; das | |
Adjektiv „kontrovers“, bislang Fügungen wie dem „kontrovers diskutierten | |
Thema“ vorbehalten, dient inzwischen auch zur Einordnung eines | |
„kontroversen Politikers“ (Arte-Magazin) und kann sogar, wie in einem | |
Zuckerberg-Porträt auf Phoenix, „eine kontroverse Erfolgsgeschichte“ | |
charakterisieren. | |
Kontrovers könnte man demnach auch den Konjunktiv nennen, wenn er es denn | |
wäre; tatsächlich ist aber nur sein Gebrauch widersprüchlich, ja | |
widersinnig. Richtig ist oft genug, insbesondere wenn die Aussage eines | |
Dritten in indirekter Rede wiedergegeben wird, der Konjunktiv I, der mit | |
der Präsensform; verwendet wird daher meist der Konjunktiv II, den man auch | |
als Irrealis bezeichnet: „Es gäbe Hinweise darauf, dass Nanopartikel | |
gesundheitsschädlich sein können“, referiert die taz und neigt also der | |
Ansicht zu, dass es in Wahrheit keine Hinweise gibt; gäbe es welche, müsste | |
es „gebe“ heißen. | |
Doch Fehler haben ihr Gutes, findet so doch auch einmal die Wahrheit über | |
den Vatikan in den Spiegel, der den Regensburger Kirchenmann Müller | |
anlässlich der Brasilienreise des frischgebackenen Papstes zitiert: Diese | |
nämlich zeige, „sagt Bischof Müller, dass es noch etwas anderes gäbe als | |
’diesen verlotterten Haufen aus Rom voller Prunk und Fürstengehabe‘“. | |
Dem Präsens-Konjunktiv kann man nachsagen, er klinge ein bisschen fein, | |
altklug, ja hochnäsig, aber nichtsdestoweniger ist er meiner Expertise | |
zufolge korrekt. | |
## „Eine geborene Künstlerin“ | |
In einem ganz anderen und ziemlich neuen Zusammenhang ist der Gebrauch der | |
Präsensform zumindest fragwürdig: Wenn die taz schreibt, die | |
Humortherapeutin „Barbara Wild ist 1961 in Bad Godesberg geboren“, obwohl | |
die Sache über 50 Jahre zurückliegt, dann wird offenkundig das Partizip als | |
Adjektiv begriffen. Dieses jedoch hat eine andere, übertragene Bedeutung | |
(„eine geborene Künstlerin“); zudem geht es an den Tatsachen vorbei, die | |
Geburt als Eigenschaft aufzufassen statt als passiv erlebte Handlung: Man | |
wird geboren und wurde 1961 in Bad Godesberg geboren. | |
Vielleicht ist auch das ein kontroverser Wandel, der kontroverse | |
Leserbriefe nach sich zieht von Leuten, die nicht geboren worden sein | |
wollen. Im Fall der zusammengesetzten Partizipien, die wie Adjektive | |
gesteigert werden, ist die Angelegenheit hingegen eindeutig. Die | |
„vielversprechendsten Treibstoffe“ oder „vielbefahrensten Bahnverbindunge… | |
(taz und taz) sind hier die vielvorkommendsten paradoxen Steigerungsweisen, | |
während „der altgedientste Thronanwärter“ (aus dem Anzeigenblatt Super | |
Sonntag) ganz neugemachtst ist. | |
Wer aber merkt, dass hier etwas faul ist, und sich erinnert, dass Adjektive | |
wie „alt“ oder Adverbien wie „viel“ eigene Komparationsformen haben, der | |
verschlimmbessert die Chose noch und bildet Superstlativste à la „die | |
tiefstgreifendste soziale Revolution der Geschichte“ oder „der | |
meistgelesenste afrikanische Roman“ (taz und abermals taz). | |
## Semantische Unterschiede | |
„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, empfahl | |
Karl Kraus. Manche entscheiden sich lieber für das Falsche, etwa wenn ein | |
Verb zwei Bedeutungsvarianten hat und daher auf zweierlei Weise konjugiert | |
werden kann. Dann werden „die letzten Elemente des Wohlfahrtsstaates | |
geschliffen“ (attac-Rundbrief), also im Gegensatz zum Gemeinten auf | |
Hochglanz gebracht. Oder wenn Verben täuschend ähnlich klingen: Ägyptens | |
einstmaliger Präsident Mursi „verbat jede Anordnung von Untersuchungshaft | |
im Zusammenhang mit journalistischen Verfehlungen“ (taz) – oder verbot er | |
es sich? Verbetete er sich? | |
Kontroverse Fragen! Und es geht auch sonst drunter und drüber, selbst | |
Mensch und Ding geraten durcheinander. „Er verlegt die ganze Siroe-Oper aus | |
dem Palast in eine geschundene Villa“, schreibt die taz über den Regisseur | |
einer Händel-Oper. Der Titel eines anderen Artikels versprach sogar „Die | |
Wiederauferstehung des zersetzten Jürgen Dehmers“. Freilich stellt sich im | |
Fortgang des Artikels heraus, dass Dehmers doch kein Jesus ist, der nach | |
seiner Verwesung auferstanden ist, sondern als Missbrauchsopfer in der | |
Odenwaldschule „ein zersetzter und zerstörter Junge“ war. | |
Die Sachverhalte können sich sogar ins Gegenteil verkehren, so dass der | |
Ermordete zum Mörder wird: „Ferdinando de’ Medici war zunächst Kardinal, | |
bis er 1587 seinen Bruder Francesco als Großherzog ablöste. Bis heute wird | |
ihm dessen Mord nachgesagt.“ (Arte-Magazin) | |
Wie sagte doch Johannes von Thurn und Taxis vor Jahren im | |
Spiegel-Interview: „Zwischen beiden Begriffen sehe ich lediglich einen | |
semantischen Unterschied.“ Wenn’s weiter nichts ist, muss wohl auch der | |
kontroverseste Sprachwandel gebilligt werden. | |
5 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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