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# taz.de -- Die Wahrheit: Ich Rentier!
> Heißer Tee zu Mutters Plätzchen, leise rieselnder Schnee, Christvesper im
> Radio – so hatte ich mir das als Rentier vorgestellt. Denkste.
Bild: Rentier sein ist auch nicht immer einfach
Die Liebe ereilte mich mitten im Mai. Da trug er Zivil, sah aus wie jeder
Hans oder Klaus und fiel auch nicht dadurch auf, dass er nach Anisplätzchen
roch oder „Stille Nacht“ vor sich hinsummte. Dann kam der November. Und mit
ihm diese Sache mit Weihnachten.
Das ganze Jahr meckert man, dass es diesmal anders wird, dass einem die
Verwandtschaft und all das Gedöns doch gestohlen bleiben können. Ich
überlegte, ob ich es endlich schaffen würde, meinen Weihnachtsboykott
umzusetzen, als mein Liebster langsam umtriebig wurde. Er sortierte
geheimnisvolle kleine Zettel mit Adressen, suchte ein goldenes Buch, und
irgendwann überraschte ich ihn, wie er sich im Badezimmer vor dem Spiegel
ein Kissen unter den Pullover stopfte. Es war sehr befremdlich. War das der
Mann, den ich seit einem halben Jahr kannte? Hatte er diesen weißen Bart
schon am Morgen? Und dann dieser Mantel …
Fragend sah ich ihn an, doch er lächelte mild. So mild, wie man nur mit
solch einem Bart lächeln kann. Er zog seine weißen Watteaugenbrauen hoch,
strich sich über seinen Kissenbauch und fragte mich, ob ich nicht Lust
hätte, sein Rentier zu sein. Ich schwieg zunächst verwirrt, doch nachdem
ich begriffen hatte, was er wirklich meinte, wurde ich so ehrfürchtig, als
hätte er mir einen Antrag gemacht.
Meine Knie waren lebkuchenweich. Natürlich wollte ich. Die Vorstellung von
beschenkten Kinderaugen, leuchtend im Kerzenschein, rührte mich ungeheuer.
Endlich hatte ich eine zulässige Entschuldigung an Weihnachten nicht gen
Heimat zu reisen. Nun war ich ja zu Höherem berufen, unterwegs in
himmlischer Mission – mit einem Weihnachtsmann ohne Führerschein.
## Alles hat einen Haken
Ich weiß nicht, wie es gebürtigen Rentieren geht, aber in meinem ersten
Rentierjahr hatte ich mir einiges anders vorgestellt. War ich anfangs noch
überzeugt, ich könnte am Heiligabend all meine heimlichen Gelüste – heißer
Tee zu Mutters Plätzchen, leise rieselnder Schnee, Christvesper im Radio –
ungestört und risikolos wartend im Auto ausleben, verstand ich schnell,
dass alles einen Haken hatte: beschlagene Scheiben durch den Tee,
Schlitterpartien von einer Bescherung zur nächsten mitten durch das leise
Rieseln und als Krönung eine Lichtmaschine mit Ladehemmung. Mutters Kekse
waren gut, doch das waren sie auch unterm Tannenbaum.
Selbst meine Rentierkonstitution hatte ich überschätzt, da mir entfallen
war, dass das Auto alt und ohne Standheizung war. Nach zwei Stunden meldete
sich eine Frostbeule am Fuß, nach drei hatte meine Seemannsjoppe,
Nordsee-Wind-und-Wetter-erprobt, im Kampf gegen die Kälte kapituliert, und
gegen halb sieben, der bevorzugten Bescherungszeit, verlangsamte sich
unsere Fahrt unvorhergesehenerweise, da meine eingefrorenen Finger
Schwierigkeiten mit der Gangschaltung bekamen.
Im zweiten Jahr war ich besser gewappnet. Nur leider hatte der kleine
Taschenofen, den ich mir für meine klammen Hände ausgeliehen hatte, einen
leichten Defekt. Der Deckel schloss nicht richtig, was ich allerdings erst
bemerkte, als das Innenfutter meiner Jacke zu kokeln begann. Im dritten
Jahr dann büßte ich bei einem waghalsigen Ausweichmanöver eine selbst
gehäkelte Patchworkdecke ein, die sich zwischen Gaspedal und Bremse
verfangen hatte.
## Frierend im Auto warten
Meinem Weihnachtsmann ergeht es da völlig anders, jedenfalls was die
Temperaturen anbelangt. Er verbringt seine Zeit damit, Keyboards,
Fahrräder, ja ganze Eisenbahnanlagen in den dritten oder vierten Stock zu
schleppen, um anschließend mit angetrunkenen Familienvätern in überheizten
Wohnzimmern tapfer „Alle Jahre wieder“ zu singen, während ich frierend im
Auto harre.
Sobald er sich, die nächste Adresse murmelnd, wieder auf den Beifahrersitz
schwingt, kann ich das heitere Essen-Raten spielen. Seinem Mantel haftet
dabei ein Odeur an, das zwischen Gans und Pute changiert. Werde ich anfangs
wehmütig beim Gedanken an Lametta und Bienenwachskerzen, so ändert sich das
beim Duft von Rotkohl oder Pommes. Dann nämlich kommt mir die
Verwandtschaft unterm Weihnachtsbaum in den Sinn, und ich bin froh, dass
ich als Rentier am Steuer sitze.
Rentiere genießen außerdem einige Vorteile, etwa straßenverkehrstechnischer
Art – nie stört die Polizei den Weihnachtsmann bei der Arbeit. Und mit der
Kälte kann ich ganz gut leben. Am besten war der Winter, als die
Autoscheiben von innen zufroren, obwohl ich meinen Tee schon
vorsichtshalber auf der Kühlerhaube getrunken hatte. Als letzte Lösung fiel
mir der Sprühenteiser ein, den ich beherzt von innen auf die Scheiben
leerte.
Nach stundenlanger Rentiertour fand mich mein Weihnachtsmann singend und
mit leuchtenden Augen im enteisten Wagen vor. Ohne es zu merken, war mit
dem Enteiser der große Geist der Weihnacht über mich gekommen. Es wurde
dann noch ein sehr lustiger Abend.
14 Dec 2013
## AUTOREN
Ilke S. Prick
## TAGS
Rentier
Weihnachten
Heiligabend
Obst
Frauen
Weihnachten
Finnland
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