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# taz.de -- Alle Jahre wieder: Besinnlichkeit mit Bratwurst im Rücken
> Noch schlimmer als Weihnachten ist Weihnachtsmarkt-Weihnachten. Oder? Ein
> Rundgang.
Bild: Noch'n warmer Eierlikör und da isses, das echte W-Feeling...
Weihnachtsmärkte sind ein bisschen wie Zuckerwatte. Man hat so richtig Bock
drauf, und am Ende muss man kotzen. Was einen nicht davon abhält, es wieder
zu tun. Zuckerwatte. Weihnachtsmärkte. In Erwartung von – ja, von was? Dass
Zuckerwatte irgendwann noch mal überrascht? Dass man dieses verdammte
Weihnachten tatsächlich zwischen Glühwein und roten Liebesäpfeln einmal zu
fassen bekommt? Der Selbstversuch am zweiten Advent soll es zeigen.
11.30 Uhr, Alexanderplatz. Der Weihnachtsmarkt zwischen Galeria Kaufhof,
Weltzeituhr und Stadtbahn-Trasse steht ein bisschen im Schatten des
Riesenrads vor dem Roten Rathaus. „Eine bunte Winter- und Weihnachtswelt“
verspricht die Reklame, Glasbläser und Erzgebirgsfolklore, „weihnachtliche
Stimmung“.
Am U-Bahn-Ausgang stinkt es wie immer nach geschmolzenem Käse-Imitat von
der Pizzabude eine halbe Treppe tiefer. Draußen: gebrannte Mandeln.
Glühweinatem. Vor mir dreht sich etwas. Ein doppelstöckiges Karussell, die
Lichter blinken störrisch im Gegentakt zum „Last Christmas“-Medley.
Kreischende Kinder auf weißen Pferden, rufende Mütter. Wer stehen bleibt,
hat die Bratwurst des Hintermanns im Rücken.
Das Tempo auf Weihnachtsmärkten ist hoch. Als ob man die Suche nach
Entschleunigung beschleunigen könnte. Besinnlichkeit? Kann man die kaufen?
Vielleicht kann man sie ja essen. Eine Bratwurst, bitte.
## Fünf Lieder im Repertoire
12 Uhr, am „Pyramidentreff“. Die Frauencombo aus Eisenhüttenstadt,
Weihnachtsmannmützen auf den blondierten Haaren, ist gut drauf. „We wish
you a merry Christmas“, scheppert es aus den Boxen, noch einen
Eierlikörpunsch mit Sahne, dann schunkeln Gudrun und ihre Freundinnen. Das
Musikrepertoire des „Pyramidentreffs“ besteht aus ziemlich genau fünf
Liedern. Gudrun stört es nicht. „Einen Glühwein, bitte“, sage ich. Für
warmen Eierlikör fehlt mir der Mut.
Zwei Tische hinter Gudrun steht Diana aus Hamburg. Schon eine ganze Weile.
Los ging’s mit Bier („Immer sachte!“), dann Glühwein, dann Eierlikör.
Missbilligend schaut sie auf mein Glas. Roter Glühwein? Anfängerin! „Weißen
musste trinken“, sagt sie und schiebt mir ihres rüber. „Mal probieren?“
Ich will nicht. Probiere trotzdem, finde die Kombo aus Orange, Zimt und
billigem Wein grauenvoll, sage „lecker“ und habe eine neue Freundin. Ich
erfahre, dass Diana das Udo-Lindenberg-Musical besser findet als das über
Rocky, welches aber wiederum schlechter sei als das über Queen. Diana hat
auch eine Meinung zu Sturm „Xaver“ („Überbewertet!“) und zum Hamburger
Abendblatt („Zu viel Information!“). Ich nicke folgsam, ich habe Respekt
vor ihr. Sie schafft einmal Eierlikör und zweimal Glühwein (weiß), während
ich mich immer noch an diesem Anfängergesöff abarbeite. „Nächste Rutsche�…
rufen Dianas Begleiter. Ich gehe. „Weißen musste trinken!“, ruft sie mir
nach.
13 Uhr, im Budenlabyrinth. Langsam geht mir das Weihnachtsmarktweihnachten
auf die Nerven. Weihnachtsmarktweihnachten ist hässlich und macht komische
Geräusche. Ständig haben die Leute den Mund offen, weil sie Champignons
oder Bratwurst oder Lángos essen müssen, dann putzen sie sich die
Kräutermayonnaise mit mäßigem Erfolg aus dem Bart und schlürfen am
Glühwein-to-go-Becher. Die meisten trinken übrigens rot, ha! Mein
angespanntes Verhältnis zu „Last Christmas“ verschlechtert sich weiter.
13.30 Uhr, Weltzeituhr. Brigitte springt mir in den Weg. Sie hat eine
Leopardenflecken-Mütze auf dem Kopf und ein Megafon in der Hand, da hinein
singt sie, ziemlich laut und ziemlich falsch. Ich tippe auf „Alle Jahre
wieder“. „We shall overcome“, strahlt Brigitte. Brigitte ist dagegen, dass
sich der Westen in Syrien oder der Ukraine einmischt. Grundsätzlich. „Wo
sind unsere Grenzen“, ruft Brigitte, „wo sind sie denn?“ Brigitte war auch
gegen den Golfkrieg, damals. Das Grundgesetz, der Natovertrag, das
Völkerrecht … „Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken?“ Ich sage, ich m…
erst Weihnachten finden. Ich glaube, sie hält mich für verrückt. Ich sie
auch.
14 Uhr, Lucia-Weihnachtsmarkt in Prenzlauer Berg. In den Höfen der
Kulturbrauerei ist man über jeden Trash erhaben. Das Kettenkarussell ist
Vintage und blinkt nicht, die Crêpes heißen Galettes. Hier wird nicht
geschunkelt, geht auch gar nicht: Sphärische Klänge wabern durch die Luft,
gemischt mit ein bisschen Weltmusik. Väter hinter Kinderwägen, Väter bei
der Bastelstunde. Das Angebot „Eierlikör und Riesentrampolinspringen,
komplett 7 Euro“ wirkt merkwürdig billig neben dem Stand mit Schalen aus
upgecycleten Vinyl-Schallplatten.
Überhaupt ist das Weihnachtsmarktweihnachten hier upgecyclet.
Elchbratwurst, Rentiergulasch, der Glühwein heißt Glögi und kommt aus
Finnland. Ist es besser, sich mit Glühwein zu betrinken, wenn er aus
Heidelbeeren oder Äpfeln gemacht ist? Die Mützen jedenfalls werden nicht
sehr viel schöner, nur weil sie handgestrickt und aus echter Wolle sind.
## Schnee aus Puderzucker
Ein Mädchenchor singt „In der Weihnachtsbäckerei“, die Väter spendieren
Zuckerwatte. Es würde mich nicht wundern, wenn die paar verlorenen
Schneeflocken, die sich in den Pfützen auflösen, aus Puderzucker sind. Das
ist alles sehr schön. Und ein bisschen bescheuert, denke ich, als ich mich
tatsächlich in der Glögi-Schlange wiederfinde. Das Zeug schmeckt … wie
Glühwein. Ernüchtert puste ich mir ein bisschen Puderzuckerschnee von der
Mütze und ziehe weiter.
15.30 Uhr, Nettelbeckplatz. Wedding. Einmal im Advent ist hier
„Sozialmarkt“. Ein paar Büdchen ducken sich im Wind, ein einsamer Trompeter
intoniert „Kling, Glöckchen“. Es gibt Selbstgebasteltes, vegane Linsensuppe
für 50 Cent, Früchtepunsch für 20 Cent. Sterni gibt’s wie immer um die Ecke
vor dem Casino.
Irgendwie hat man hier komplett den Zuckerguss vergessen, vielleicht wird
einem deshalb auch nicht so schnell schlecht. Es gibt keinen
Heidelbeerglühwein und keine Kräutermayonnaise und auch keine schunkelnde
Gudrun aus Eisenhüttenstadt. Dafür gibt es einen Weihnachtsmann für die
Kinder, der heißt Abdul und kommt aus dem Libanon. Wenn die Kinder ihm
versprechen, der Mutter in der Küche zu helfen, gibt’s ein Geschenk. Alle
versprechen es treuherzig, auch Erkin, der kurz versucht hatte, seine Hand
in Abduls Sack zu mogeln.
Eine Frau pöbelt ein bisschen rum, sie will Bratwurst. Bloß hat sie kein
Geld und auch keinen Sozialhilfeempfängerausweis, dann gäbe es die Wurst
nämlich umsonst. Die Verkäuferin am Stand nebenan berät sich mit ihrer
Kollegin, dann stapft sie los und kauft der Pöbelfrau eine Wurst. So geht
Weihnachten.
10 Dec 2013
## AUTOREN
Anna Klöpper
## TAGS
Reiseland Tschechien
Weihnachten
Rentier
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