| # taz.de -- Grüne Geschichtsverarbeitung: Anatomie einer fehlgeleiteten Debatte | |
| > Das Göttinger Institut für Demokratieforschung legte Mitte Dezember den | |
| > Zwischenbericht zur Pädophilie-Debatte bei den Grünen vor. Für die | |
| > Hamburger Grünen waren die Ergebnisse ein „Schock“. Warum eigentlich? | |
| Bild: Aufrecht sieht anders aus: Eine mäßig gute Figur machen die Hamburger G… | |
| HAMBURG taz | Katharina Fegebank sah sich zu schnellem Handeln gezwungen. | |
| Kaum war der Zwischenbericht zum Thema Pädophilie und Grüne im Dezember | |
| erschienen, da ging die Hamburger Chefin der Grünen mit einer | |
| Presseerklärung an die Öffentlichkeit, die in den Worten „ein Schock“ | |
| gipfelte. Reflexartig „distanzierte“ sich die Parteivorsitzende „mit aller | |
| Entschiedenheit“ von den Passagen des grünen Bürgerschaftswahlprogramms von | |
| 1982, die „Straffreiheit für pädophile Handlungen gefordert haben“ und, so | |
| Fegebank, „jenseits von Gut und Böse waren und bleiben“. Die Grünen, so | |
| legt Fegebanks Reaktion nahe, haben Schlimmes getan in ihrer Vergangenheit, | |
| den Missbrauch von Kindern quasi intellektuell gerechtfertigt. | |
| Doch die Debatte läuft fehl. Seit Monaten klebt das Thema Pädophilie an den | |
| Grünen wie Kleister. Die Grünen als Pädo-Partei. Die ersten Erkenntnisse | |
| des jetzt erschienenen Forschungsberichtes wurden just in der heißen Phase | |
| des Bundestagswahlkampfes publiziert und von interessierter Seite dazu | |
| genutzt, um den grünen Spitzenkandidaten Jürgen Trittin nachhaltig zu | |
| beschädigen. | |
| Trittin, damals noch Student, hatte 1981 als presserechtlich | |
| Verantwortlicher des Wahlprogramms der Göttinger | |
| Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL) dafür gesorgt, dass sich im | |
| Programm korrekt wiederfand, was die Basis abgesegnet hatte: darunter auch | |
| die Forderung nach Straffreiheit von sexuellen Kontakten zwischen Kindern | |
| und Erwachsenen, die nicht auf Zwang beruhen. | |
| Diese und andere „Enthüllungen“ werden von den Medien und den politischen | |
| Gegnern nun so zelebriert, dass der Anschein entsteht, die Grünen hätten im | |
| Verborgenen gemeinsame Sache mit Päderasten gemacht, was erst heute – gut | |
| dreißig Jahre später – ans Licht komme. Enthüllt werden aber kann in | |
| Wahrheit gar nichts. | |
| Die Grünen machten aus dem, was heute „pädophile Forderungen“ genannt wir… | |
| keinen Hehl. Sie druckten sie 1980 in ihrem Bundesprogramm und dann auch in | |
| den Wahlprogrammen in Göttingen, Bremen und 1982 in Hamburg ab. Mit | |
| unsichtbarer Tinte geschrieben waren die Massendruckwerke nicht. | |
| Verblüffen muss: Während die grüne Altlast heute skandalisiert wird, schlug | |
| sie bei Erscheinen kaum Wellen. Obwohl die Springer-Presse, aber auch SPD | |
| und CDU die grünen Programme systematisch auf der Suche nach Themen | |
| durchkämmten, die man den Newcomern genüsslich um die Ohren schlagen | |
| konnte, stolperte niemand über die Formulierungen, die über dreißig Jahre | |
| später die Grünen in eine Debatte zerren, die sie bereits viel Renommee | |
| gekostet hat. Der Grund dafür ist einfach: Die Grünen haben Anfang der | |
| Achtzigerjahre zwar vieles in ihre Programme geschrieben, was sie zu | |
| politischen Outlaws stempelte, in der Debatte um die Entkriminalisierung | |
| des Sexualstrafrechts lagen sie aber erstaunlich nahe am gesellschaftlichen | |
| Mainstream. | |
| Ein Verdienst der von den Göttinger Sozialwissenschaftlern Franz Walter und | |
| Stephan Klecha vorgelegten Studie ist, dass sie den gesellschaftlichen | |
| Kontext detailliert nachzeichnet, in dem der Diskurs über die Straffreiheit | |
| von Inzest (§ 173 StGB), Sexualität mit Schutzbefohlenen (§ 174), ein | |
| besonderes Schutzalter von männlichen Homosexuellen (§ 175) und die | |
| Sexualität mit Kindern (§ 176) geführt wurde. Die Autoren belegen, dass | |
| damals eine breite Phalanx von Pädagogen, Jugendpsychiatern, | |
| Sexualwissenschaftlern und Kriminologen der Meinung war, diese Paragraphen | |
| müssten reformiert oder gar abgeschafft werden. | |
| Die Medien, von der taz bis hin zur Zeit, räumten den Befürwortern einer | |
| Entkriminalisierung der Sexualität von Erwachsenen und Kindern breiten Raum | |
| ein, große Teile der FDP sympathisierten mit diesen Forderungen und selbst | |
| in Publikationen des Kinderschutzbundes und von Pro Familia kamen die | |
| Strafrechtsreformer ausführlich zu Wort. | |
| Zahlreiche damals aktuelle Studien lieferten Belege, dass die Reaktion der | |
| Umwelt und der Justiz Kinder meist stärker belaste, als die sexuelle | |
| Handlung selbst. Und dort, wo Zwang und Gewalt eine Rolle spiele, gab es | |
| auch damals Paragraphen aus dem Umfeld der sexuellen Nötigung, die sexuelle | |
| Übergriffe gegenüber Kindern strafrechtlich sanktionierten. | |
| Doch die Grünen sind selbst schuld, dass die Pädophilie-Debatte sie nun mit | |
| Wucht einholt. Denn ihre Vergangenheitsbewältigung ist mehr als ambivalent. | |
| Zwar gingen sie mit dem Auftrag für die Göttinger Studie selbst in die | |
| Offensive, doch von den erwartbaren Ergebnissen der Untersuchung sind sie | |
| eben nur „geschockt“. Kaum einer der altgedienten Grünen kann sich erinnern | |
| und niemand will es gewesen sein. „An die Auseinandersetzungen über dieses | |
| Thema habe ich keine persönliche Erinnerung“, sagt etwa die ehemalige | |
| Hamburger Bürgerschafts und Bundestagsabgeordnete Krista Sager und die | |
| unlängst verstorbene Mitbegründerin der Bremer Grünen Liste, Christine | |
| Bernbacher, erinnerte kurz vor ihrem Tod, dass sie nichts erinnerte: „Bei | |
| uns hat diese Sache nie eine Rolle gespielt.“ Der Hamburger Theatermacher | |
| Corny Littmann, Spitzenkandidat der Hamburger Grünen bei der Bundestagswahl | |
| 1980 betont, „er sei nie auf der Seite der Pädophilen gewesen“, auch wenn | |
| Walter und Klecha einige Indizien zusammengetragen haben, die einen anderen | |
| Schluss nahelegen. | |
| Kein Grüner in Sicht, der sich traut, die Haltung seiner Partei in der | |
| damaligen Zeit zu erklären oder gar persönlich Verantwortung zu übernehmen | |
| – stattdessen kollektive Amnesie. So wird die Debatte nicht mit den Grünen, | |
| sondern über sie geführt. | |
| Dabei könnten die Grünen, wenn sie sich denn erinnern würden, darauf | |
| verweisen, dass gerade die Debatte in ihrer Partei und in ihrem Umfeld | |
| entscheidend dazu beigetragen hat, die einseitige Sichtweise der | |
| Straffreiheits-Befürworter zu überwinden und schließlich gesellschaftlich | |
| zu marginalisieren. | |
| Denn von Anfang an war der feministische Flügel in den Grünen stark | |
| vertreten und bekämpfte die vor allem aus Kreisen der Schwulenbewegung | |
| geforderte Legalisierung sexueller Handlungen mit Kindern entschieden. 1984 | |
| etwa verwahrte sich die grünennahe Frauengruppe Wandsbek dagegen, dass sich | |
| die Fachgruppe „Rosa Biber“ der Grün-Alternativen Liste (GAL) mit der | |
| Forderung durchsetzen konnte, sexuellen Missbrauch nur bei nachgewiesener | |
| Schädigung der Opfer unter Strafe zu stellen. | |
| Mitte der Achtzigerjahre setzte sich die Sichtweise, dass es keinen | |
| einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen und Kindern geben könnte, | |
| endgültig durch. Die Legalisierungs-Forderungen verschwanden allmählich aus | |
| den grünen Programmen und die bekennenden Päderasten, die vor allem für die | |
| eigene Straffreiheit kämpften, aus der grünen Partei. | |
| Immerhin: Die Hamburger Grünen wollen es bei Schock und Distanzierung nicht | |
| bewenden lassen. Sie luden jetzt Studienkoordinator Stephan Klecha für den | |
| 5. Februar zu einer öffentlichen Veranstaltung ein, um sich „speziell den | |
| Hamburger Vorgängen zu stellen und so unserer Verantwortung zur Aufklärung | |
| gerecht zu werden“. | |
| ## Taz-Redakteur Marco Carini trat 1980 bei den Grünen ein, gehörte ab 1981 | |
| als stellvertretendes Mitglied dem Hamburger Landesvorstand an und | |
| kandidierte 1982 – unter dem Wahlprogramm, das die Straffreiheit sexueller | |
| Handlungen mit Kindern beinhaltete – weit hinten auf der Landesliste zur | |
| Hamburger Bürgerschaftswahl. | |
| 31 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco Carini | |
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