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# taz.de -- Dean Motters Comic „Mister X“: Grandiose urbane Kaputtheit
> Dank seiner Retrofuturismus-Optik war „Mister X“ in den Achtzigern
> stilbildend. Als Sammelband gibt es ihn jetzt auch auf Deutsch.
Bild: Radiant City: die Autos können fliegen, aber die Stadt macht wahnsinnig.
So viel zu tun und so wenig Zeit! Schattengleich huscht der Mann durch die
endlostiefen Straßenschluchten seiner Stadt, drahtig, hager, ewig gehetzt,
Drogen halten ihn wach, seit vielen Wochen schon. Er hat diese Stadt
erschaffen, jetzt will er sie reparieren.
Und tatsächlich scheint er sie zu beherrschen, kann dank seines exklusiven
Zugangs zu einem Geheimgangsystem überall verschwinden und auftauchen und
kennt alle wichtigen Strippenzieher. Doch wer ist dieses Mysterium mit
Glatze, Trenchcoat und Sonnenbrille?
Der Kanadier Dean Motter ist der Schöpfer von „Mister X“, zwischen 1983 und
1988 jagte er ihn durch 14 Bände voll mit Intrigen, Toten, Entführungen und
Verstrickungen, in Szene gesetzt von jungen Talenten der alternativen
Comicszene: Den Brüdern Gilbert, Jaime und Mairo Hernandez, die dank ihrer
„Love + Rockets“-Reihe längst Legendenstatus haben, sowie den Zeichnern
Seth und Paul Rivoche.
Die düstere, postmoderne New-Wave-Optik von „Mister X“ war stilbildend, ein
Vorbild etwa für Tim Burtons Kinointerpretation von Batmans Gotham City
oder Terry Gilliams „Brazil“.
## Kilometerhohe Art-déco-Hochhäuser mit gigantischen Foyers
Der Hamburger Verlag Schreiber & Leser, zu dessen Schwerpunkt Krimi-, Noir-
und Erotik-Stoffe gehören, hat nun sämtliche Bände des Motter-Zyklus
veröffentlicht und sie dafür umfangreich restauriert: Auf jeder Seite der
Originalscans wurden digital die Druckraster und bei Bedarf auch
Farbschatten entfernt. Drei Vorworte, einiges Bonusmaterial und das von
Motter schon 2008 neu gestaltete Ende der letzten Episode runden den
Sammelband ab.
Doch ist Mister X, das verrät ja schon sein Platzhaltername, gar nicht der
Mittelpunkt dieser Geschichte. Denn die wahre Hauptfigur ist eine Stadt:
Radiant City! Kilometerhohe Art-déco-Hochhäuser mit gigantischen Foyers und
Hallen streben hier in den von Scheinwerferkegeln zerschnittenen
Nachthimmel, verbunden von schwindelhohen Brücken wie in dem Filmklassiker
„Metropolis“.
Nicht ein Baum, nicht ein Grashalm existiert in dieser Stadt der Zukunft,
deren Schatten, Formen und Fluchten von den Zeichnern grandios in einer
retrofuturistischen Dieselpunk-Ästhetik festgehalten wurden: fliegende
Autos im Stile von 50er-Jahre-Straßenkreuzern, Zeppeline und schnittige
Schnellzuglokomotiven, Zeitungsstreiks und Roboter prägen das Bild –
Computerdisplays gibt es hingegen nicht.
In einem Interview mit dem Berliner Stadtmagazin Zitty betonte Motter auch
den „großen deutschen Einfluss“ auf Mister X, von der Architektur der
Bauhausmoderne über die Filmkulissen des Stummfilmexpressionismus, beim
Entwurf des Szenarios lief zudem Musik von Kraftwerk und Tangerine Dream.
## Designerdrogen spielen eine bedeutende Rolle
Gebaut wurde Radiant City, natürlich, als Utopie, von den fähigsten
Architekten seiner Zeit, Simon Myers und Walter Eichmann. Die Stadt sollte
den Prinzipien der Psychotektur folgen, einer Feng-Shui-artigen
Wissenschaft, laut der die äußere Verfasstheit der Stadtstrukturen die
Stimmung ihrer Bewohner steuert.
Doch die Zeit wurde knapp, die Architekten zerstritten sich, Eichmann
tauchte unter, und aus der Utopie wurde ein Moloch mit defekter
Psychotektur, der seine Bewohner in den Wahnsinn treibt: Ständig sehen wir
Menschen auf die Straßen stürzen, das einzige Ziel der Schnellzüge scheint
die Ninth Academy zu sein, eine Mischung aus Sanatorium und Irrenanstalt.
Designerdrogen spielen eine bedeutende Rolle in Radiant City, Leprocyllin,
Poltercain, Insomnalin, Metamorphin heißen sie. Der Wunsch nach
Schlaflosigkeit, nach der Selbstoptimierung mit Wachmachern ist ein
Dauerthema der Comicserie und lässt sie heute, in Zeiten von Neuro
Enhancement und steigendem Ritalinkonsum, noch immer aktuell erscheinen.
„So viel zu tun – und so wenig Zeit!“ ist das Mantra von Mister X.
So lustvoll klischeebeladen wie die urbane Kaputtheit von Radiant City ist
auch ihr Personal, das aus einem Hardboiled-Crime-Groschenheftchen stammen
könnte: Da ist der schmierige Gangsterboss mit der Femme fatale als
Liebchen, da sind die korrupte Elite, der mächtige Konzern, der heimlich
die Stadt mit Drogen versorgt, und die Unschuld vom Lande, die sich in
Mister X – Santos nennt sie ihn – verliebt hat.
## Kein Superheld, Manipulator oder genialer Meisterdieb
Doch ist dieser Mister X trotz seiner unklaren Identität und seines
Wissensvorsprungs kein Superheld, Manipulator oder genialer Meisterdieb. Im
Gegenteil, ständig sehen wir ihn scheitern und flüchten, er wird verprügelt
und verraten, scheitert an Empfangsdamen und kämpft mit
Entzugserscheinungen. Er ist so kaputt wie die Bewohner seiner Stadt, der
größte Junkie von allen.
Wobei seine Geschichte auf den Leser selbst ebenfalls wie Schlafentzug auf
chemischen Drogen wirkt. Sind die Zeichnungen der ersten Bände noch recht
realistisch gehalten, wird es bei den Visualisierungen von Seth mit jeder
Folge schneller, karikaturenhafter, flapsiger. Mit fettem Strich wirft er
Pop-art-hafte Abstraktionen aufs Papier.
Und auch das Erzähltempo steigt stetig, immer atemloser folgen die
Ereignisse aufeinander, immer weiter verliert man den Zugriff auf das
Geschehen und versinkt immer tiefer in dem Irrsinn, der jeden Bewohner von
Radiant City unweigerlich befällt. So viel zu tun und so wenig Zeit!
26 Jan 2014
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
Comic
Retrofuturismus
Thriller
Architektur
Graphic Novel
Comic
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