# taz.de -- Reportage: Sammelpunkt der Armut | |
> Von „unhaltbaren Zuständen“ spricht man bei der besetzten Schule in | |
> Kreuzberg – Politiker sagen es, Unterstützer und die Flüchtlinge selbst. | |
Bild: Blick in die besetzte Schule | |
Um zehn Uhr morgens ist es still auf dem verschneiten Hof der ehemaligen | |
Gerhard-Hauptmann-Schule in Kreuzberg. Schon von Weitem sind die | |
Metallgitter zu sehen, mit denen Mitarbeiter des Drogenhilfevereins | |
Fixpunkt den Zugang zu ihren Räumen gesichert haben. Vor der Tür liegt ein | |
Haufen aus Sperrholz und gammeligen Matratzen. „So sieht es hier nach einem | |
Wochenende aus – im Winter ist es schlimmer geworden“, sagt eine | |
Mitarbeiterin, die vorsichtig den Kopf aus der Tür streckt. Drüben, im | |
Durchgang, schliefen jetzt manchmal Obdachlose, die in der Schule keinen | |
Platz mehr fänden. Durch welche Tür man am besten in den besetzten Teil des | |
Gebäudes komme? Die Frau zuckt die Achseln. „Weiß nicht, ich war noch nie | |
drin.“ | |
Der Verein Fixpunkt ist der einzige reguläre Mieter in der früheren | |
Gerhard-Hauptmann-Schule. Seit dem 8. Dezember 2012 haben die rund 20 | |
Sozialarbeiter neue Nachbarn: Rund 100 Flüchtlinge vom Protestcamp auf dem | |
Oranienplatz besetzten die Räume als Winterquartier. Der Bezirk duldet | |
seither die Besetzer, bezahlt Strom, Heizung und Mülltonnen. Den Alltag | |
regeln die Bewohner selbst. Streit gibt es immer wieder, erst letzte Woche | |
wurde ein 41-Jähriger nach einer Messerattacke im Krankenhaus behandelt. | |
Aus Protest gegen wiederholt aus dem Fenster geworfenen Müll stellte | |
Fixpunkt im Januar die Schutzgitter auf, ließ einen Durchgang zum | |
Besetzertrakt zumauern und forderte vom Bezirk, für mehr Ordnung zu sorgen. | |
Mehr Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit, das will auch Idris A. Der | |
Sudanese zeigt auf bunte Zettel in vielen Sprachen, die in dem | |
heruntergekommenen Treppenhaus hängen: Aufruf zur Hausversammlung, Freitag, | |
17 Uhr. Ein Vertreter des Bezirks soll kommen – und Mitarbeiter eines | |
privaten Sicherheitsdienstes. Sie sollen ab Februar in Zusammenarbeit mit | |
den Bewohnern dafür sorgen, dass Streit nicht eskaliert, Regeln eingehalten | |
werden und nicht mehr jeder einfach ins Haus kann. Idris A. findet das gut. | |
Er hat sich dem Social Security Team angeschlossen, das die Bewohner | |
kürzlich gebildet haben. „Wir müssen Gewalt und Chaos draußen halten“, s… | |
Idris A. Und gibt zu: „Ohne Unterstützung von außen schaffen wir das nicht | |
mehr“. | |
## Der Grünen-Stadtrat will die Schule leer bekommen | |
Es ist eng geworden und unübersichtlich: Die Schule ist von einer Zentrale | |
des Flüchtlingsprotests längst zu einem Sammelpunkt für innerstädtische | |
Armut geworden: Obdachlose aus Deutschland, Wanderarbeiter aus Osteuropa, | |
Papierlose und Flüchtlinge von Tschetschenien bis Kamerun leben hier auf | |
engstem Raum. | |
Wie viele es genau sind, weiß keiner. Idris A. schätzt die Bewohnerzahl auf | |
300, der grüne Bezirksstadtrat Hans Panhoff geht von 250 Menschen aus. | |
Panhoff will den neuen Sicherheitsdienst auch dazu einsetzen, sich einen | |
Überblick über die Bewohnerschaft zu verschaffen. Die vom Bezirk | |
beauftragten Mitarbeiter sollen Zettel verteilen, Adressen von | |
Hilfsangeboten und Beratungsstellen unter die Leute bringen. Panhoff will | |
die Schule leer bekommen – „je eher desto lieber“. | |
Die Zustände dort, sagt Panhoff, könnten für niemanden eine Dauerlösung | |
sein. Außerdem hat der Bezirk Pläne für das Haus: Lokale Initiativen sollen | |
dort einziehen, mittlerweile haben sich bei einem Vergabeverfahren rund 50 | |
Projekte angemeldet – auch die Flüchtlingsfraueninitiative, die jetzt im | |
zweiten Stock tätig ist. Wenn es nach Panhoff geht, sollen frei werdende | |
Räume sofort mit Projekten besetzt werden, die Sanierung müsse im laufenden | |
Betrieb geschehen – damit sich leerstehende Räume nicht sofort wieder mit | |
Bedürftigen füllten. | |
Momentan gibt es keinen einzigen freien Raum im Gebäude. Idris A., der von | |
seinem Wohnquartier im Erdgeschoss auf dem Weg zu einer Freundin im ersten | |
Stock ist, passiert das Gemeinschaftsbad, dem die Tür fehlt, und quetscht | |
sich an einem Igluzelt vorbei, das mitten im Flur steht. Davor ein paar | |
Schuhe und eine Tüte mit Habseligkeiten. Noch ein Afrikaner, der schon | |
länger auf ein Zimmer warte, sagt er. Es riecht nach Körperausdünstungen, | |
alten Klamotten und staubiger Heizungsluft. Immerhin ist es warm. | |
Am Ende des langen, mit Graffiti und Flecken übersäten Flurs klopft Idris | |
A. an eine Tür. Es öffnet Mimi F., die einige hier auch „Sista Mimi“ | |
nennen. Die 35-jährige Kenianerin gehört zu den Erstbesetzerinnen, die auch | |
auf dem Oranienplatz-Camp aktiv ist. Ihr lebhaftes Gesicht mit den | |
Dreadlocks war schon mehrmals in Zeitungen und im Fernsehen zu sehen. Jetzt | |
sieht Mimi F. schmal aus und müde. Mit den Medien spreche sie nicht mehr so | |
gern, sagt sie leise: „Alle schreiben nur Negatives. Über Schmutz, Gewalt | |
und Drogen. Über unser Anliegen kein Wort.“ | |
Das Anliegen derer, die seit mehr als einem Jahr unter erbärmlichen | |
Bedingungen in der Schule leben, ist eigentlich leicht zu verstehen: Sie | |
wollen ein menschenwürdiges Leben führen. Sie wollen nicht in | |
Asylbewerberheimen weggesperrt, zum Nichtstun gezwungen oder in ihre | |
Heimatländer abgeschoben werden. Sie wollen eine Zukunft. Mimi F. kam vor | |
18 Jahren als Asylantin nach Deutschland, da war sie 17. Sie besuchte die | |
Schule, lernte Deutsch. Jetzt sitzt sie hier, in einem heruntergekommenen | |
Zimmer mit defektem Waschbecken, Kochplatte, Matratze auf dem Boden, in den | |
Ecken Taschen und Körbe mit ihrem Besitz. Aus dem CD-Player dudelt Reggae: | |
„It’s a new day, Rastafari.“ | |
Mimi macht ein paar Tanzschritte, serviert Gewürztee mit Milch. Ihr | |
Aufenthaltsstatus ist nach wie vor nicht gesichert. „Ich kann das Wort | |
Duldung nicht mehr hören“, knurrt sie. So lange der Bezirk die Besetzung | |
duldet, wird sie in der Schule wohnen bleiben. Was danach kommt, weiß sie | |
nicht: „Ich bin damit beschäftigt, jeden Tag zu überstehen, wie alle hier.�… | |
Mimi F. seufzt und wählt auf ihrem Handy zum dritten Mal die Nummer des | |
Bezirksamts: Die Frauentoiletten sind verstopft, in allen Bädern ist die | |
Heizung ausgefallen. Keiner geht ran. „Die treiben Spielchen mit uns“, sagt | |
sie verbittert. Es gebe im ganzen Haus nur zwei funktionierende Duschen, | |
gespendete Waschmaschinen können nicht angeschlossen werden, weil die | |
Kapazität der Stromleitung nicht ausreicht. Um jede anstehende Reparatur | |
müsse man betteln. | |
„Keiner kümmert sich“, klagt Idris A. Nur die Polizei sei dauernd da, jeden | |
zweiten Tag. Schikane, finden die beiden. „Die Gewalt und die Drogen kommen | |
von außen“, beteuert Idris A., „im Haus sind wir alle wie eine große | |
Familie.“ | |
Was nicht heißt, dass man sich unbedingt mag: Für die weißhaarige | |
Spanierin, die aus einem geräumten Hausprojekt kam und in einem Verschlag | |
vor Mimis Zimmer haust, haben beide wenig Verständnis: Ein Parasit sei sie, | |
nehme mit ihrem EU-Pass anderen den Schlafplatz weg. Auch über die | |
Roma-Familien, die sich im gegenüberliegenden Trakt einquartiert haben, | |
sind die Asyl-Aktivisten nicht gerade begeistert. „Die bleiben, weil es | |
hier warm ist, an den politischen Aktionen gegen Grenzen und Asylpolitik | |
beteiligen sie sich nicht“, sagt Mimi F. Aber es sei halt ein offenes Haus, | |
wegschicken könne man keinen. | |
## Schlagzeilen, Polizei | |
In der Anonymität der Schule tauchen immer wieder auch Kriminelle unter, | |
Dealer vom Görlitzer Park nutzen das Haus als Drogenversteck. Die | |
Schlagzeilen und Polizeieinsätze setzen die grüne Bezirksregierung mit | |
ihrer Duldungspolitik mächtig unter Druck. Nicht nur CDU-Innensenator Frank | |
Henkel stellte laut die Frage, ob dem Bezirk die Kontrolle entglitten sei. | |
Selbst die Fraktionschefin der Grünen Ramona Pop sprach Mitte Januar von | |
„unhaltbaren Zuständen“, seitdem entzweit der Streit über die Schule die | |
Parteikollegen. | |
Unhaltbare Zustände herrschen in der Schule gewiss – für die Bewohner. Zwei | |
Duschen für 250 Leute, keine Waschmöglichkeit, kaum Kochstellen oder | |
Rückzugsmöglichkeiten. Angesichts der Armut und Perspektivlosigkeit, die | |
sich in diesen Räumen ballt, geht es allerdings erstaunlich friedlich zu. | |
Man hat sich arrangiert, so gut es eben geht. Im Social Center, einem | |
Flachbau hin zur Ohlauer Straße, gibt es einen Aufenthaltsraum und eine | |
Dusche, man verarbeitet gemeinsam Essensspenden oder organisiert Konzerte. | |
Idris A. bietet eine kleine Tour durchs Haus an. Gegenüber den Afrikanern | |
leben im ersten Stock mehrere Roma-Familien. Auf dem langen Flur sitzen | |
vier Frauen und drei Männer um eine Sperrholz-Sofagarnitur und rauchen, | |
dazwischen turnen zwei Babys auf kaputten Plastikhochstühlen. Sie seien aus | |
Rumänien und lebten seit einem Jahr in der Schule. „Ist okay hier, alles | |
ist besser als Rumänien“, sagt eine junge Frau. Hinter ihrem Rücken sieht | |
man in eines der Zimmer, es sieht sauber und wohnlich eingerichtet aus. | |
Arbeit haben sie alle keine, sagt die Frau, sie lebten vom Betteln. | |
„Bei dem Wetter läuft das Geschäft nicht, wir können keine Milch für die | |
Kinder kaufen“, klagt die Frau und zeigt nach draußen, wo die Schneeflocken | |
tanzen. Was werden sie tun, wenn sie aus der Schule raus müssen? | |
Kollektives Schulterzucken. Nach den Plänen des Bezirksstadtrats werden die | |
Roma als Erste ausziehen. „Für diese Bewohnergruppe dürfte sich am | |
leichtesten eine Lösung finden“, sagt Panhoff. Als EU-Bürger hätten die | |
Rumänen schließlich Zugang zum regulären Wohn- und Arbeitsmarkt. | |
Eine Etage höher liegt der Frauentrakt, bewohnt nur von weiblichen | |
Flüchtlingen. Idris A. verabschiedet sich an der Tür – Männer dürfen den | |
Frauenbereich nicht betreten. Am Ende des Flurs, der im Gegensatz zum Rest | |
des Hauses peinlich sauber ist, hat eine Unterstützergruppe den | |
„International Women Space“ eingerichtet. In den zwei freundlichen Zimmern | |
gibt es regelmäßige Rechts- und Sozialberatung und Deutschkurse für Frauen, | |
ein Umsonstladen bietet Kleider, Haushaltswaren und Spielzeug. | |
Lea, eine junge Französin mit kurzen Haaren, hat heute Bürodienst. „Die | |
Bedingungen hier sind total krass“, sagt sie. „Es ist heftig, was die | |
Leute, die zum Teil schon traumatisiert sind, jeden Tag erleben.“ Lea | |
engagiert sich seit zwei Jahren für die asylstreikenden Flüchtlinge, im | |
Oranienplatz-Camp und in der Schule. Solidarität aus der Bevölkerung sei | |
wichtig für die Menschen, die oft daran zu verzweifeln drohten, dass | |
Politik und Gesellschaft sich ihren Forderungen verschlössen. | |
## Sich frei bewegen | |
Mary S. und Elizabeth Z., die nebenan wohnen, haben noch nicht aufgegeben. | |
Das Zimmer, das sich vier Frauen teilen, ist liebevoll eingerichtet, mit | |
Bildern – und einem großen Transparent: „Freedom of Movement“. Mary S., | |
eine rundliche Mittdreißigerin aus Kenia, ruft: „Nie wieder gehe ich ins | |
Lager zurück!“ Im Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt würden die Menschen | |
reihenweise verrückt. „Ich will in einer normalen Wohnung wohnen, arbeiten, | |
einkaufen, mich frei bewegen!“ Die deutsche Asylpolitik sei unmenschlich, | |
ergänzt Elizabeth Z. Sie jedenfalls ziehe lieber mit Plastiktüten durch die | |
Stadt, von einer Notunterkunft zur anderen, als sich in einem Lager im | |
Nirgendwo einsperren zu lassen, ohne Kontakt zur Außenwelt oder | |
Beschäftigungsmöglichkeit. „Wir wollen niemandem auf der Tasche liegen“, | |
stellt sie klar: „Wir wollen nur eine Chance.“ | |
Wo sollen Menschen wie Mimi, Idris, Mary und Elizabeth hin, wenn der Winter | |
vorbei ist? Zurück an ihre „Residenz“-orte, wo ihnen Strafen und Lagerhaft | |
drohen? Auf die Straße? Man hört dem grünen Bezirksstadtrat seine | |
Ratlosigkeit an: „Wir bemühen uns ja, die Flüchtlinge zu unterstützen. Aber | |
die Schule ist nicht fürs Wohnen vorgesehen, damit muss bald Schluss sein.“ | |
31 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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