# taz.de -- Wintersport in Deutschland: Weiße Träume | |
> Der Harz als deutsches St. Moritz – davon träumen Lokalpolitiker und | |
> Investoren. Doch was, wenn das Wetter nicht mitspielt? Dann rieselt | |
> Kunstschnee. | |
Bild: Winterspaß dank Kunstschnee: Skilift auf dem Wurmberg. | |
BRAUNLAGE/SCHIERKE taz | Dieses Weiß! Es hängt in den Bäumen, es hat Autos | |
eingehüllt, es hat die Dachrinnen vollgestopft, der Kurpark ist weiß, es | |
hebt die Herzen, und es leuchtet in den Augen. Die Händler haben Ständer | |
mit Mützen und Handschuhen vor die Läden gestellt, sie wirken wie Bäumchen, | |
die abgeerntet werden wollen. Die Saison, spät in diesem Jahr, hat | |
begonnen. Auch Stefan Grote ist zufrieden, wenn er aus dem Fenster blickt. | |
Braunlage hat einen neuen Aggregatzustand erreicht. Das Weiß ist über seine | |
Stadt gekommen wie Manna. | |
Draußen auf dem Wurmberg stürzen sich Skifahrer den Hang hinab. Der | |
Vierersessellift surrt unentwegt, die Schneelanzen vermehren das Weiß, und | |
die größte Pistenraupe, aus Österreich angeliefert, verteilt es in der | |
Nacht. Würde Grote das Fenster öffnen, könnte er die Schneelanze sehen, die | |
nebenan die Skiwiese bestäubt. Oben auf dem Wurmberg ragen an die hundert | |
aus dem Berg – wie Masten, die das Banner des Winters in die Höhe recken: | |
Schnee, nach Möglichkeit tonnenweise. | |
Grote hat sich gesetzt. Sicher, bis jetzt seien keine 15 Zentimeter | |
gefallen, räumt der Bürgermeister ein. Umso wichtiger sind die | |
Investitionen, die ein Unternehmer getätigt hat. 8 Millionen Euro in Piste, | |
Beschneiungsanlage und Lift, davon 2 Millionen Förderung durch die EU, | |
hinzu kommen mehr als eine Million, die Braunlage für den Parkplatz | |
ausgegeben hat. | |
Grote, 55 Jahre alt, SPD-Mitglied, ein hagerer, eher zurückhaltender Mann, | |
kommt bei der neuen Technik schnell ins Schwärmen. Die | |
„Haupterrungenschaft“ ist der Lift, der stündlich 1.800 Skifahrer auf den | |
Gipfel ziehen kann. Umso betrüblicher, dass die Eröffnung von | |
Norddeutschlands größtem Skigebiet verschoben werden musste, weil es selbst | |
für die Schneelanzen zu warm war. | |
## Bisher kam der Winter doch immer noch | |
Als ob er sich vergewissern müsste, blickt Grote nach draußen. „Wenn die | |
Wintermonate mal ausfallen sollten, dann geht es uns ganz schlecht“, räumt | |
er ein. Doch bisher sei der Winter noch immer gekommen. Der Investor habe | |
sich meteorologische Gutachten geben lassen. „Wenn die Anlagen zwanzig | |
Jahre laufen, haben sie sich amortisiert.“ Grote preist das Engagement des | |
Unternehmers und lässt unerwähnt, dass seine verschuldete Stadt mit 17 | |
Prozent beteiligt ist – am Projekt wie am Risiko. | |
Was hätte Braunlage denn für Alternativen? Grote ist inzwischen genervt, | |
wenn er nach einem „Plan B“ gefragt wird. Als ob ein Wintersportort | |
plötzlich ein Bad Segeberg oder Sylt sein könnte, nur von Bergen umgeben. | |
Kurzum – es gibt keinen Ersatz für Schnee. Morgen beginnen die | |
„Zeugnisferien“ in Niedersachsen. In Celle und Hannover stehen schon die | |
Skier bereit. Der Wurmberg ruft. „Wenn der Winter gut wird, rechne ich mit | |
10 Prozent mehr Übernachtungen.“ | |
Der Harz als Wintersportregion ist noch lange nicht passé. Franziska Busch, | |
„eine lupenreine Braunlagerin“, wird in Sotschi beim Eishockey antreten. | |
Apropos Sotschi – was der Badeort kann, hat sich auch der Harz zugetraut. | |
Braunlage bewarb sich gemeinsam mit Schierke um die Olympischen | |
Winterspiele von 1936. | |
## Olympiabewerbung 1936 | |
Damals haben sich mehrere deutsche Orte um die Olympischen Spiele beworben, | |
erzählt Karl-Günther Fischer. Garmisch-Partenkirchen habe schließlich den | |
Zuschlag erhalten. Fischer, achtzig Jahre alt, ist eine Institution. Er ist | |
die wandelnde Ortschronik und Experte für die Geschichte des Skisports in | |
Deutschland, der – natürlich – in Braunlage seinen Anfang nahm. | |
Wäre Fischer ein Bänkelsänger, er könnte Balladen singen auf Oberförster | |
Arthur Ulrichs. Wie er 1883 den Orkan erlebte, wie er die Waldschäden | |
schätzen musste, bei den Schneemassen nicht hinauskam und wie er sich beim | |
Stellmacher die ersten Skier sägen ließ, die je in Deutschland gefertigt | |
wurden. Als Vorlage nahm Ulrichs ein Bild, das norwegische Jäger zeigte, | |
die auf Skiern durch den Schnee huschten. Bald waren Waldarbeiter, | |
Briefträger, Ärzte und Schuljungen von den Brettern begeistert. 1892 wurde | |
der Ski-Club Braunlage gegründet. Skilaufen wurde Unterrichtsfach. „Die | |
meisten Leute denken, der Skilauf ist in den Alpen entstanden.“ Fischer | |
schüttelt milde den Kopf. | |
Wer über Braunlage die Nase rümpft, sollte zu Karl-Günther Fischer in die | |
Vorlesung gehen. Er hält sie im Heimat- und Ski-Museum, dem er seit 1985 | |
ehrenamtlich vorsteht. Die Heimatstube hat sich in der Zeit in ein | |
offizielles „FIS-Ski-Museum“ verwandelt. Die Fédération Internationale de | |
Ski (FIS), der internationale Ski-Verband, hält seine Hand über das Haus. | |
Im Museum hängen Medaillen im Dutzend, Fotos, Skischuhe aus Känguruleder, | |
Skibindungen, Rodel, Wimpel und natürlich Skier, die wie Soldaten Spalier | |
stehen und den hoch aufgeschossenen Mann zu grüßen scheinen. | |
Und Fischer kurz vergessen machen, dass es für ihn, der nun abtreten will, | |
keinen Nachfolger mehr gibt. Über das neue Skigebiet ist dem gesprächigen | |
Fischer wenig zu entlocken. Zum Schluss zitiert er Arthur Ulrichs. Schon | |
der habe die Schneesicherheit am Wurmberg gelobt. Vor dem Museum steht ein | |
hölzerner Ulrichs wie Rübezahl Wache. Fischer legt ihm kurz die Hand auf | |
die Schulter und stapft davon. Schneekanonen und andere Geschütze gehören | |
noch nicht zum Museumsbestand. | |
## Ganzjährige Nutzung | |
„Beide Orte, Braunlage und Schierke, haben eine richtige Chance, | |
deutschlandweit. Europaweit!“ Christiane Hopstock sitzt in ihrer | |
Hotelveranda und rührt im Tee. Die 45-Jährige ist die Inhaberin des Hotels | |
Bodeblick in Schierke und ehrenamtlich Bürgermeisterin. In Temperament und | |
Schaffenslust ist sie ihrem Amtskollegen aus Braunlage deutlich überlegen. | |
Vielleicht liegt es daran, dass viele Schierker das Gefühl haben, dass sie | |
noch weit mehr aufholen müssten als Braunlage. | |
Bis 1989 lag Schierke im DDR-Grenzstreifen, der nur mit Passierschein | |
betreten werden durfte. Zwar erholten sich hier verdiente Genossen, | |
Stasi-Chargen und linientreue Werktätige, aber das „deutsche St. Moritz“, | |
als das Schierke in den zwanziger Jahren gepriesen wurde, war versunken. | |
Bis heute. Der Ort mit seinen 600 Einwohnern investiert 30 Millionen Euro | |
in Infrastruktur – Straßen, Seilbahnen, ein Parkhaus mit 700 Plätzen, ein | |
Natureisstadion, das im Sommer zur Freilichtbühne wird. Noch nicht gezählt | |
die privaten Mittel, die folgen sollen. Wenn alles klappt. Dann kommen | |
wieder die höheren Stände, wie einst Familie Karstadt, Eiskunstlaufstar | |
Sonja Henie und Kronprinzessin Juliana, die spätere Königin der | |
Niederlande. | |
Nostalgie mischt sich mit Tatendrang. Hopstock, die betont, dass Schierkes | |
Projekte zur ganzjährigen Nutzung taugen, will eine Seilbahn bis zum | |
Wurmberg bauen, damit Touristen wie Pakete über die Harzwipfel schweben und | |
eine Vision wahr wird, die Touristiker seit 2006 umtreibt: den Harz zu | |
einem „attraktiven, trendigen und schneesicheren Ziel für ganz | |
Norddeutschland“ zu machen, mit dem Wurmberg als „Top-Skigebiet“. | |
Deutsches St. Moritz, Schneesicherheit, alpine Skiregion – es klingt wie | |
Autosuggestion. Im Advent, wenn der Schnee schwer in den Fichten hängt, | |
werde auch ihm warm ums Herz, gesteht Friedhart Knolle. „Ich komme selbst | |
aus dem Harz.“ Knolle spricht ruhig, wie ein Therapeut, der die Harzer aus | |
ihrem Wachtraum holen will. Wer Jahrzehnte mit Wintersport gut verdient | |
habe, tue sich schwer, Abschied zu nehmen. Es überrasche ihn nicht, dass | |
Bürgermeister Grote keine Alternative plant zum Schnee. „Die Natur schreibt | |
gerade den Plan B“, ist Knolle überzeugt. Man müsse nur die | |
Durchschnittstemperatur auf dem Brocken verfolgen, die seit 1848 von 1,5 | |
Grad auf über 4 Grad gestiegen ist. | |
## Keine gute Energiebilanz | |
Knolle stapft durch eine Landschaft, die sein Reden Lügen strafen will. | |
Hier oben auf dem Wurmberg strahlt die Sonne, der Schnee funkelt und der | |
Himmel ist blau. „Typische Inversionswetterlage“, sagt Knolle. Der | |
58-Jährige ist Sprecher des BUND Goslar und einer der schärfsten Kritiker | |
der Skipiste hier oben. Unentwegt fördert der Sessellift Skifahrer zum | |
Gipfel, die kurz in die Sonne blinzeln, an der Wurmberg-Alm mit ihren Boxen | |
verweilen und sich den Hang hinabstürzen. | |
Abseits des Trubels bleibt Knolle stehen und deutet auf ein Speicherbecken, | |
wo sich Strudel drehen. Das Wasser ist für den Betrieb der Schneelanzen | |
notwendig. Was in der Nacht versprüht wird, muss tagsüber hinaufgepumpt | |
werden. Mit verheerender Energiebilanz, mutmaßt Knolle. „Bergsee“ nennt der | |
Investor das Loch. Ein Gestaltungswille hat sich hier manifestiert, der | |
Knolle kurz verzagen lässt. Bis vor Kurzem sei das noch Naturschutzgebiet | |
gewesen, erzählt er. Von Putin’schen Dimensionen ist das noch entfernt, | |
aber sein Geist ist durchaus zu spüren. | |
Wie ein Fremder geht Knolle hinunter. In Braunlage habe sich die | |
Hardcorefraktion durchgesetzt, resümiert er. Dabei kommen nur 10 Prozent | |
der Touristen wegen des Wintersports. Modernes Wandern, Städtetourismus, | |
Naturerlebnis seien gefragt. Der Harz biete eine Fülle von Weltkulturerbe. | |
Hildesheim, Goslar, Eisleben, Quedlinburg, das Kloster Walkenried, das | |
Fagus-Werk in Alfeld, dazu den Nationalpark. Kommunalpolitiker kommen ins | |
Stottern, sollten sie all das aufzählen, was im Harz alles versammelt ist. | |
Stattdessen setzt man auf Schneelanzen. | |
„Vielleicht irre ich mich ja auch“, sagt Knolle plötzlich. Vielleicht hält | |
sich die weiße Pracht. Braunlage jedenfalls wirbt schon für das nächste | |
Sportereignis: Nacktrodeln mit RTL und Remmi Demmi Reisen. | |
4 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
## TAGS | |
Wintersport | |
Harz | |
Tourismus | |
Harz | |
DOSB | |
Sotschi 2014 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Niedersachsen | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Geplantes Ski-Paradies im Harz: Schneekanonen für Schierke | |
Weil die Touristen ausbleiben, plant Schierke im Harz eine 25 Millionen | |
Euro teure Skipiste. Wegen des Klimawandels gibt es aber zu wenig Schnee. | |
Olympische Spiele in Deutschland: DOSB lernt nicht dazu | |
Bei seiner Präsidiumsklausur hat der Deutsche Olympische Sportbund den | |
Willen zu Olympia in Deutschland bekundet. Hamburg und Berlin kämen als | |
Ausrichter in Frage. | |
Sotschi 2014 – Eiskunstlauf, Paar: Knacken sie die Nuss? | |
Das sächsische Eiskunstlaufpaar hat alles gewonnen – nur nicht Gold bei | |
Olympia. Das brauchen sie, um von den Deutschen endlich geliebt zu werden. | |
Autoren fordern Meinungsfreiheit: Offener Brief an Putin | |
Mehr als 200 Schriftsteller fordern vor Beginn der Spiele in Sotschi, dass | |
Russland die „Stimmen aller Bürger“ hört. Zu den Unterzeichnern gehört a… | |
Günter Grass. | |
Keine Skisaison in Sicht: Aufschwung wird vertagt | |
Weil es im Harz viel zu warm für Kunstschnee ist, muss der Saisonbeginn am | |
Wurmberg auf unbestimmte Zeit verschoben werden. | |
Skitourismus-Offensive im Harz: Erlösung durch Kunstschnee | |
Seit Jahren verliert die niedersächsische Seite des Harzes Touristen. Die | |
Wende sollen neue Kunstschnee-Pisten auf dem Wurmberg bringen. | |
Die Wahl in Sachsen-Anhalt: Der Bauer hat gewonnen | |
Anhalt war vor vier Jahren der Wahlkreis mit der niedrigsten | |
Wahlbeteiligung. Diesmal jagt ein CDU-Mann der Linkspartei das Direktmandat | |
ab. |