# taz.de -- Die Wahrheit: Scherbenmeer mit Bär | |
> Unterwegs im olympisch vergeistigten Moskau kann man erleben, was eine | |
> russische Affäre alles an Absonderlichkeiten aufweisen kann. | |
Bild: Immer diese russischen Bären, Bären, nichts als Bären… | |
„Heute also Russland“, denke ich fröhlich und atme tief die kalte und | |
melancholische Luft der Metropole ein. Bär und ich stehen mitten in Moskau | |
vor dem Hauptbahnhof und sehen uns um. „Nastrowje“, sagt ein dicker, alter | |
Mann mit roter Schnapsnase, der unweit von uns auf einer Bank sitzt. Er | |
hebt eine leere Wodkaflasche, sieht uns mit müden Augen an und zertrümmert | |
die Flasche zufrieden auf dem Boden. Während die Scherben in alle | |
Himmelsrichtungen springen, kippt er kopfüber von der Bank. „Was hat er?“, | |
will ich wissen. „Keine Sorgen mehr“, sagt Bär. | |
Sein Geschäftssinn hat uns nach Russland geführt. Ein bisschen Business, | |
ein bisschen Olympia und vielleicht ein bisschen homoerotische Liebe. „Und | |
jetzt?“, frage ich. „Jetzt lassen wir den Rubel rollen und kommen der | |
korrupten Seele der russischen Politik ein wenig näher“, sagt Bär. Wenig | |
später stehen wir mitten auf dem Roten Platz. Neben uns spielt ein kleiner | |
Junge für die Touristen Gitarre. Er hat sich als Kuchen verkleidet. | |
„Was stellt er dar?“, will ich wissen. „Eine russische Sagengestalt?“ �… | |
„Njet, einen russischen Zupfkuchen“, sagt Bär und wirft dem Kleinen ein | |
paar Münzen vor die Füße. Ein paar Meter weiter spult ein Reiseführer zum | |
tausendsten Mal sein Touristen-Programm herunter: „Der Rote Platz ist das | |
pulsierende Herzstück Moskaus und Schauplatz russischer Geschichte“, | |
erzählt er gelangweilt. „Auf diesem Platz gab es schon immer Raum für | |
Paraden, Märkte und Hinrichtungen.“ – „Hinrichtungen?“, frage ich | |
ängstlich. „Früher“, sagt Bär beschwichtigend. „Heute bekommst du als | |
Regierungsgegner nur noch eine Tracht Prügel, einen unfairen Prozess und | |
danach schimmelst du irgendwo in Sibirien lebenslänglich vor dich hin. | |
Chodorkow-Ski nennt man diese bei den Mächtigen sehr beliebte Sportart.“ | |
Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, dann fällt mein Blick auf ein | |
rotes Gebäude. „Ist das der Kreml?“, will ich wissen. „Da“, sagt Bär. | |
„Wo?“, frage ich. „Nein: Da!“, wiederholt Bär. „Da?“ – „Da.“… | |
lieb dich nicht, du liebst mich nicht“, denke ich und bin verwirrt, mir ist | |
das zu dadaistisch. „Vergiss es“, sagt Bär, nimmt meine Hand und führt mi… | |
auf das rote Gebäude zu. Unterwegs werden wir zuerst von einigen | |
Polizeibeamten und danach von einem Haufen Ultranationalisten verprügelt. | |
Sie halten uns für ein schwules Touristenpärchen. | |
Eine Viertelstunde später stehen wir ziemlich verbeult im Kreml. Vor | |
unseren geschwollenen Augen öffnet sich eine massive Holztür, hinter der | |
Wladimir Putin zum Vorschein kommt. An seiner Seite steht ein russischer | |
Bär, der seinen Arm um Putin gelegt hat und an jedem Finger einen goldenen | |
Ring trägt. „Bär der Ringe“, denke ich und will wissen, ob Putin ein | |
pelziges Geheimnis hat. Putin will gerade etwas sagen, als ihm seine | |
pelzige Begleitung einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst. Er nickt | |
verlegen und schweigt. „Dobro poschalowat, herzlich willkommen in | |
Russland“, sagt der Bär und umarmt meinen Bären. | |
Während Bär und Bär Geschäfte machen, hocke ich zusammen mit Wladimir unter | |
einem Porträt von Iwan dem Schrecklichen. Wir spielen ein | |
Gesellschaftsspiel: „Sotschi-Nopoly“. Dabei geht es darum, Sportstätten f�… | |
möglichst viel Geld zu bauen, ohne die daran Beteiligten zu bezahlen. Wer | |
am Ende am meisten Geld in die eigene Tasche gewirtschaftet hat, hat | |
gewonnen. | |
Während Wladimir und ich Milliarden verprassen, trinken wir Wodka und | |
werfen die leeren Gläser auf eine Statue, die neben der Tür steht. Als ich | |
mein fünftes Glas geworfen habe, kippt die Statue plötzlich um. Er jetzt | |
bemerke ich, dass es ein junger, mittlerweile stark blutender Wachsoldat | |
ist. Ich will aufspringen und ihm helfen, als Wladimir mich zurückhält. | |
„Passt schon“, sagt er, „heißt schließlich ’Rote Armee‘.“ | |
Einige Promille, ein zünftiges Abendessen und mehrere Gaspipeline-Verträge | |
später verlassen Bär und ich sturzbetrunken, aber zufrieden den Kreml. Wir | |
nehmen ein Taxi zum Hotel. Im Radio läuft russischer Hiphop von Ural B. | |
„2017 werde ich Kanzler“, sagt Bär unvermittelt, „mit Hilfe der | |
Putin-Methode.“ – „Putin-Methode?“, frage ich irritiert. „Geführte | |
Entscheidungsfindung bei maximaler Intransparenz“, erwidert Bär und sagt, | |
dass er eine neue Partei gründen wird: Die Bären-Brüder. Ich muss laut | |
lachen, dann kotze ich durchs Seitenfenster. Jedenfalls war das meine | |
Absicht. Ich hätte das Fenster vorher öffnen sollen. | |
Während sich im Fußraum der halbverdaute Borschtsch breit macht und | |
irgendwo in der Ferne die Transsibirische Eisenbahn tutet, begreife ich | |
plötzlich: „Das Leben ist gar nicht so kompliziert, wie ich immer dachte.“ | |
Wie schrieb Dostojewski einst: „Heute bist du noch das Erbrochene, aber | |
morgen vielleicht schon die Fußmatte. Deshalb gib nicht auf, denn | |
irgendetwas sein wirst du immer.“ Das verstehe ich zwar nicht, aber es hört | |
sich wahrhaftig an. | |
„Andere Länder, andere Sittenwidrigkeiten“, sagt Bär zuletzt, während das | |
nächtliche Moskau an uns vorbeirauscht und ich erschöpft, aber glücklich an | |
seiner Schulter einschlafe. | |
9 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Sven Stickling | |
## TAGS | |
Russland | |
Moskau | |
Olympische Spiele | |
Deutschland | |
USA | |
China | |
Deutsche Bischofskonferenz | |
Boat People | |
Internet | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Pillen für die Kanzlerin | |
Unterwegs mit dem Bär zu den Fundamenten der Demokratie werden Pillen | |
ausgegeben, falsche Passwörter hingegen eingegeben. | |
Die Wahrheit: Donutschwer mit Bär | |
Unterwegs im Land der eingezäunten Möglichkeiten wird man schnell mal ins | |
Weiße Haus eingeladen, wo Fressen und Gefressen werden auf der Tagesordnung | |
steht. | |
Die Wahrheit: Bär mit Frühlingsrolle | |
Per Rikscha unterwegs im raffgierigen Peking fallen so einige | |
Ungereimtheiten ins Auge zwischen Ying und Yang. Und auch Angela Merkel ist | |
mit von der Partie. | |
Die Wahrheit: Bling-Bling für die Seele | |
Auktionsportal, Egoshooter und ein erotischer Kirchen-Onlineshop: Die Pläne | |
der Katholischen Kirche für einen Relaunch im Webzeitalter. | |
Die Wahrheit: Mann an Mann | |
Mauretanien, Libyen, Marokko: Ein neuer Extremsport auf hoher See etabliert | |
sich. Wird Boatpeopleing bald eine olympische Disziplin? | |
Die Wahrheit: Beute vor Ebay | |
Auf dem Nord@tlantik kommt es zur großen Seeschlacht um das schwer beladene | |
Handels- und Sklavenschiff „Amazon“. |