| # taz.de -- Urteil in Halle gesprochen: Prügelnde Nazis schuldig | |
| > In Eisleben wurde 2012 eine deutschsyrische Familie von Neonazis brutal | |
| > überfallen. 14 Monate dauerte es, bis es zum Prozess kam. | |
| Bild: Die Angeklagten Ronny G. (links) und Eric S. am Montag vor der Urteilsver… | |
| HALLE taz | „Ich habe jetzt noch Albträume. Wie kann ein Mensch mit voller | |
| Wucht auf den Hinterkopf schlagen?“ Anne H. ist 29 Jahre alt, | |
| alleinerziehend und an diesem Tag die Erste, die in Sitzungssaal 90 des | |
| Landgerichts Halle in den Zeugenstand tritt. Wassim H. hat vor Blut | |
| getrieft. „Für mich ist es erstaunlich, dass er überhaupt noch lebt.“ Sei… | |
| Verlobte Mirfat A. hat versucht, die Angriffe mit ihren Schuhen abzuwehren. | |
| Sie lief barfuß, Biergläser flogen. Auch Mirfats Mutter hat mehrere Schläge | |
| auf den Kopf bekommen, berichtet Anne H. weiter. Minutenlang lag die Frau | |
| bewusstlos auf der Erde. Dann begann sie durchdringend zu schreien. | |
| Es war einer der brutalsten, mutmaßlich rassistisch motivierten Überfälle | |
| seit Jahren in Sachsen-Anhalt, der in der Jugendstrafkammer des | |
| Landgerichts in Halle aufgeklärt werden soll. Der 29. April 2012, ein | |
| Sonntag, bringt einen Vorgeschmack auf den Sommer. Die Schausteller der | |
| „Eisleber Frühlingswiese“ rüsten sich für den Ansturm. Auf einem Rundgang | |
| flanieren die Menschen zwischen Fahrgeschäften und Ständen. | |
| Anne H. wird Zeugin, wie mehrere Männer eine Familie von hinten überfallen, | |
| sie mit Teleskopschlagstock, Schlagring, mit Füßen und Fäusten | |
| malträtieren. Dabei sollen sie ausländerfeindliche Parolen gerufen haben. | |
| Die Familie, vor fast zwanzig Jahren aus Syrien eingewandert, will die | |
| Verlobung zwischen der Tochter Mirfat A. und Wassim H. vom Vortage mit | |
| einem Bummel ausklingen lassen. In Eisleben fanden sie Wohnung und | |
| Auskommen. Alle haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie waren sesshaft – | |
| bis zum 29. April 2012. Nach etwa zwanzig Minuten bleiben sieben teils | |
| schwer Verletzte zurück. Die Täter fliehen. Wassim H. muss notoperiert | |
| werden. | |
| ## Die Drohung ließ er ausrichten | |
| Anne H. ist mit ihrem Sohn und mit einer Freundin auf die „Wiese“ gekommen. | |
| Auch mehr als eineinhalb Jahre später schildert sie fassungslos den | |
| Angriff. Ja, flüchtig kennt sie die Syrer, Eisleben ist klein, 24.000 | |
| Einwohner. Mirfat A. kam öfter in den Frisiersalon, in dem sie gearbeitet | |
| hat. Sie habe nichts gegen Ausländer, beteuert Anne H. Der Vater ihres | |
| Sohns sei selbst einer. | |
| Detailreich schildert die Zeugin die Folgen des Angriffs. Doch wenn es um | |
| die Angreifer geht, wird es schemenhaft. An einen Schlagstock könne sie | |
| sich erinnern. Doch den Mann, der ihn hinter dem Rücken versteckt hielt, | |
| habe sie nicht erkannt. Anne H. erzählt, dass sie ihm in die Augen gesehen | |
| hat. „Der Täter war besoffen.“ Aber wer er war? Schulterzucken. | |
| Es läuft gut für die drei Angeklagten. Sie tuscheln miteinander, strecken | |
| ihre Bäuche heraus. Die schwarzen Hemden straffen sich. Wenn sie die kurz | |
| geschorenen Köpfe drehen, ragen die Tattoos, Totenköpfe, über dem Kragen | |
| hervor. Sie grienen. Mit solch vagen Aussagen ist ihnen kaum beizukommen. | |
| Marcel H. streicht sich genüsslich über die Wangen. Er, der immer mit | |
| Handschellen hereingeführt wird, hat seinen Platz vorn beim Richtertisch. | |
| H. sitzt derzeit wegen einer anderen Sache hinter Gittern. Obwohl der | |
| 20-jährige Eric S. Hauptangeklagter ist – er soll als Erster zugeschlagen | |
| haben –, scheint H. mit seinen 33 Jahren hier der Meister zu sein. Der 25 | |
| Jahre alte Ronny G. und Eric S. wirken wie Novizen. Doch beide sind schon | |
| länger in der subkulturellen rechtsextremen Szene aktiv. | |
| ## Schleppende Ermittlungen | |
| Marcel H. ist auch ein Fachmann für nonverbale Kommunikation. Er trommelt | |
| mit den Fingern, er sucht Blickkontakt zu Anne H., dann gähnt er, lehnt | |
| sich zurück, kratzt sich am Kopf. Manchmal wird er laut. Auch wenn ihn die | |
| Vorsitzende Richterin Ursula Mertens sofort ermahnt, langt das allemal, um | |
| einen Gruß zum Zeugentisch zu schicken. Man sieht sich wieder. Eisleben ist | |
| eine kleine Stadt. | |
| Dass es für die Angeklagten so gut läuft, liegt auch an den Ermittlungen | |
| der Polizei. Unmittelbar nach dem Überfall meldete sich Anne H. als Zeugin. | |
| „Der Polizist aber meinte, dass er meine Aussage nicht bräuchte.“ Elf Tage | |
| später wurde sie doch befragt. Vielleicht ist sie zwei der Tatverdächtigen | |
| vor dem Termin noch einmal begegnet. Marcel H. und Ronny G. kommen wie sie | |
| aus Eisleben und sind in der Neonaziszene einschlägig bekannt. | |
| Nach dem Überfall waren sie verschwunden. Nur Eric S., der aus Thüringen | |
| stammt, wird auf der „Wiese“ festgenommen. Marcel H. und Ronny G. stellen | |
| sich später der Polizei. Ob sie die beiden nach dem Überfall gesehen hat, | |
| sagt Anne H. nicht. Sie erzählt aber, dass nicht Ronny G. selbst, wohl aber | |
| sein Vater ihr habe ausrichten lassen, sie möge gut auf ihren Sohn | |
| aufpassen. | |
| Auch Susann B., 31 Jahre alt, windet sich im Zeugenstand. Sie könne nichts | |
| zu dem Überfall sagen, sie war derweil in ein Gespräch vertieft. „Worüber? | |
| Über Nagellack?“, fragt Richterin Mertens enerviert. „Nebenan werden | |
| Menschen zusammengeschlagen, und man unterhält sich ein bisschen?“ Es ist | |
| Ulrich von Klinggräff, ein Anwalt der Familie, der die Zeugin zum Reden | |
| bringt – jedenfalls ein wenig. „Ich muss Ihnen sagen, ich habe extreme | |
| Angst vor Herrn H.!“, begründet Susann B. ihre Ausflüchte. „Er ist in | |
| Eisleben bekannt wie ein bunter Hund. Wo der auftaucht, gibt es eine | |
| Schlägerei.“ Susann B. atmet schwer. | |
| ## Ein 15-Jähriger traut sich | |
| „Der Angreifer dreht sich, blickt nach unten, die Tätowierung lugt hinterm | |
| Kragen hervor, dann hat er mit voller Wucht zugeschlagen“, rekapituliert | |
| Klinggräff vorsichtig und fragt: „Ist das richtig?“ Sie nickt. „Gab es | |
| einen Anlass für den Überfall?“ – „Überhaupt nicht!“ Drei bis vier P… | |
| haben die Familie angegriffen. Es könnten auch ein, zwei mehr gewesen sein. | |
| Auch Susann B. ist unmittelbar nach dem Überfall zur Polizei gegangen, um | |
| auszusagen. Auch sie wurde abgewiesen. Später wollte Susann B. nichts mehr | |
| zu Protokoll geben. | |
| Anne H. und Susann B. hatten mehrfach vorgebracht, dass der Überfall zu | |
| lange zurückliege, um sich noch erinnern zu können. Dass der Prozess erst | |
| 14 Monate nach der Tat begann, liegt nicht nur an der Nachlässigkeit der | |
| Polizei. Auch die Staatsanwaltschaft Halle hat sich viel Zeit gelassen – | |
| als wären nur ein paar kaputte Biergläser als Schaden zu beklagen. Erst | |
| neun Monate später und auf öffentlichen Druck hat sie Anklage erhoben – | |
| zunächst beim Amtsgericht Eisleben, wie es nach einer Rauferei auf der | |
| Dorfstraße üblich ist. | |
| Auch die Tatverdächtigen waren bald wieder auf freiem Fuß, Ronny G. und | |
| Marcel H. in Eisleben zurück. Die Familie, die zusammengeschlagen wurde, | |
| hat Eisleben hingegen schnell verlassen. Sie lebt heute in Berlin. Noch | |
| heute leiden die Überfallenen unter den Verletzungen. Nach ihrer | |
| Zeugenvernehmung, wo auch sie von Marcel H. belästigt wurden, nahmen sie | |
| nur noch selten am Prozess teil. Ein Wort des Bedauerns hätten sie in all | |
| den 21 Verhandlungstagen nicht zu hören bekommen. | |
| Für das Gedächtnis von Zeugen ist es von Vorteil, nicht in Eisleben zu | |
| wohnen. Fabian R., ein Leipziger, saß im Bierzelt, als der Überfall begann. | |
| Der damals 15-jährige Schüler erzählt, er habe versucht einzugreifen, | |
| während etwa fünfzig Leute zusahen. „Ich war ja der Jüngste, und alle haben | |
| herumgestanden und nichts gemacht!“ Fabian R. ist mit seiner Mutter | |
| gekommen. Die Erwachsenenwelt versteht er trotzdem nicht ganz. Ein Herr | |
| habe alles gefilmt. Die Aufnahme, ein wichtiges Beweismittel, ist nie | |
| aufgetaucht. „Wenn Sie die Herren jetzt anschauen – erkennen Sie sie | |
| wieder?“, fragt Richterin Mertens. Ohne Zögern sagt R.: „Ja!“ Es läuft … | |
| nicht alles glatt für Marcel H. und seine Freunde. | |
| Und es läuft auch am Montag, am letzten Prozesstag, nicht gut. Richterin | |
| Mertens spricht alle drei Angeklagten der gemeinschaftlichen schweren | |
| Körperverletzung schuldig. Eric S., der nach Jugendstrafrecht verurteilt | |
| wird, kommt noch am glimpflichsten davon: zwei Jahre Haft, ausgesetzt auf | |
| vier Jahre Bewährung, als Auflage kommen 120 Stunden gemeinnützige Arbeit | |
| hinzu. Ronny G. erhält drei Jahre, Marcel H., unter Anrechnung einer | |
| weiteren Straftat, insgesamt vier Jahre Haft. H. muss sich außerdem wegen | |
| Alkoholproblemen in medizinische Behandlung begeben. Sämtliche | |
| Verfahrenskosten, Schadenersatz und Schmerzensgeld haben die drei ebenfalls | |
| zu tragen. | |
| ## „Böse Gedanken“, sagt die Richterin | |
| „Menschenverachtend“ sei der Überfall auf die Familie gewesen, bei der die | |
| rechte Gesinnung der Täter eine wesentliche Rolle gespielt habe. Noch | |
| einmal zählt Richterin Mertens 15 Minuten lang all die Verletzungen auf, | |
| die die sieben Opfer davongetragen haben, die Knochenbrüche im Gesicht, die | |
| Stauchungen, Blutungen, die ins Gehirn eindrangen, die Verminderung der | |
| Atemleistung, dass Wassim H. ins künstliche Koma versetzt werden musste, | |
| die psychischen Folgen. | |
| Regungslos hören sich die drei Männer die Aufzählung an. Reglos sitzt heute | |
| auch das Ehepaar A. im Saal. Der konkrete Grund, warum Menschen, die man | |
| nicht kennt, Opfer einer Gewaltorgie wurden, lässt sich nur vermuten. | |
| „Allgemeine Wut, wie Leute wie Sie sie haben. Vielleicht einfach nur böse | |
| Gedanken“, mutmaßt die Richterin. Das Fehlen von Empathiefähigkeit | |
| attestiert Mertens den Tätern ebenso wie Ausländerhass. Nur bei Marcel H. | |
| habe sie noch „menschliche Regungen“ erkennen können, da dieser immerhin | |
| bei seinen Schlägen von der Mutter abgelassen habe. | |
| Ausdrücklich bedankt sich Mertens für die Nachermittlungen der Polizei. | |
| Dass es nach der Tat zu Fehlern gekommen sei, daran sei die schlechte | |
| personelle und finanzielle Ausstattung der Polizei schuld. Hätten | |
| unmittelbar nach dem Überfall die nötigen gerichtsmedizinische | |
| Untersuchungen stattgefunden, wäre das Strafmaß ohne Zweifel höher | |
| ausgefallen. An die anwesenden Eheleute gewandt, sagt Mertens: „Wir drücken | |
| Ihnen die Daumen, dass Sie Ihren Frieden finden werden, auch hier in | |
| Deutschland!“ Chaled A. wirkt sehr nachdenklich, als er das hört. Seine | |
| Frau nickt fast unmerklich mit dem Kopf. | |
| 17 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
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