# taz.de -- Unterwegs in der serbischen Hauptstadt: Schlaflos in Belgrad | |
> Flanieren im Zentrum, Techno, gemeinsames Singen im Park Vojvode Vuka, | |
> viel Bier - Impressionen aus der serbischen Hauptstadt. | |
Bild: Blick auf Belgrad. | |
BELGRAD taz | Lass dich nicht von diesem fröhlichen Schein täuschen. Uns | |
geht es dreckig in Serbien,“ sagt mein Sitznachbar Nemanja in einem Café | |
auf der schicken Einkaufsmeile Knez Mihailova mit ihren eleganten | |
neoklassizistischen Gebäuden im Zentrum der Stadt. Und Elena, seine | |
rothaarige Freundin, fügt hinzu: „Die Kriege in den 90er Jahren haben das | |
Land ruiniert. Alle wollen weg. Wir sind frustriert. Das politische System | |
ist korrupt, es gibt keinen Fortschritt und keine Arbeit.“ | |
Meine zwei Zufallsbekanntschaften hätten mich nicht aufklären müssen – ich | |
kenne die verheerenden ökonomischen Zahlen. Das Bruttosozialprodukt liegt – | |
noch hinter dem von Turkmenistan und Ecuador – bei 6.017 US-Dollar pro | |
Einwohner. Der monatliche Durchschnittslohn beträgt 500 Euro, 30 Prozent | |
der Erwerbstätigen sind arbeitslos. Bei den Jugendlichen sieht es noch | |
schlimmer aus: Jeder zweite hat keinen Job. Allein in den letzten zehn | |
Jahren haben 30.000 gut ausgebildete junge Serben ihr Land Richtung Westen | |
verlassen. | |
Ich plaudere noch ein wenig mit den beiden, während eisschleckende Kinder, | |
Männer in kurzen Jeans und Frauen mit hohen Absätzen entspannt an den | |
Schaufenstern der globalen Modeketten entlang flanieren. Danach laden sie | |
mich noch auf ein Bier in einem anderen Stadtteil ein. Wir sitzen in einer | |
Kneipe in der Unterstadt mit Blick auf den Fluss Save. Nemanja, 27, | |
schwarze Haare, expressionistischer Maler und Gelegenheitswachmann erklärt, | |
dass vor einigen Jahren ein paar Künstler die alten verfallenen | |
Industriegebäude am Fluss in ein Kulturzentrum mit Bars, Galerien, Cafés | |
und Clubs verwandelt haben. | |
Der Putz im KC Grad bröckelt von den Wänden, Fensterscheiben sind | |
zerbrochen, das Bier ist billig, das Publikum jung und urban. Alles | |
erinnert an das Berlin Anfang der 90er Jahre. Die Freunde von Nemanja, die | |
sich inzwischen zu uns gesellt haben, erzählen, dass Belgrad zwar eine | |
wunderschöne Stadt sei, es hier aber einfach keine Arbeit und keine Zukunft | |
für sie gebe. Dennoch könne man hier – und da sind sich alle ausnahmslos | |
einig – wenigstens noch richtig trinken und feiern. | |
Um zwei Uhr nachts ziehen wir weiter in den nahe gelegenen Club Magacin. | |
Die Stimmung ist ausgelassen, der Schweiß fließt in Strömen, gespielt wird | |
Dancefloor, House und Drum ’n’ Bass Musik. Nach einigen Stunden Aufbruch zu | |
einer Tankstelle und noch mehr Bier und Wein und der Aufstieg zur alten | |
Burgfestung, dem Kalemegdan. Sonnenaufgang, Dutzende Nachtschwärmer und ein | |
herrlicher Blick auf die Save-Donau-Mündung mit ihren riesigen Brücken. | |
Dann die ersten Stadtjogger, im Hintergrund die kilometerlangen | |
Hochhaus-Betonorgien von Neu-Belgrad und unten, auf den vielen | |
Hausboot-Clubs der Save die Vergnügungssüchtigen, die immer noch zu einem | |
wummernden Technobeat tanzen. Um sieben Uhr morgens, 15 Stunden nach meiner | |
Landung, Pizza-Frühstück in einem Imbiss am Platz der Republik. | |
## Eleganter Jugendstil, sozialistische Plattenbauten | |
Belgrad hat 1,7 Millionen Einwohner, im Sommer sind die Tage extrem heiß | |
und stickig. Die Straßen sind überfüllt, es gibt keine U-Bahn, der dichte | |
Verkehr brummt in den Ohren. Mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren wäre | |
eine Art von Selbstmordversuch. Die vollgepackten Busse sind nicht | |
klimatisiert – ohne Wasserflasche und Deodorant sollte man keines dieser | |
klapprigen Gefährte betreten. Es gibt allerdings auch ein paar moderne | |
Tram-Linien, die einen sanft und nahezu geräuschlos durch die steilen | |
Gassen der Stadt transportieren. Belgrad wurde auf mehreren Hügeln erbaut, | |
die breiten Boulevardstraßen führen hinab zu den Flüssen der Save und der | |
Donau. | |
Auf einer Anhöhe liegt die im serbisch-byzantinischen Stil errichtete | |
Kathedrale des Heiligen Sava, einer der größten orthodoxen Kirchen der Welt | |
und etwas weiter unten befindet sich der Slavijaplatz, ein großer | |
Kreisverkehr, umgeben von steinernen funktionalen Hochhäusern. Es ist eine | |
sehr kompakte, urbane Stadt mit einer wilden architektonischen | |
Durchmischung: eleganter Jugendstil, sozialistische Plattenbauten, | |
verfallene Stadtvillen, staatstragender Neoklassizismus, bröckelnde | |
Fassaden und postmoderne Glaspaläste. | |
Im Zentrum der Stadt steht die gewaltige Ruine des ehemaligen | |
Verteidigungsministeriums, eine der wenigen sichtbaren Spuren der 78 Tage | |
anhaltenden Nato-Luftangriffe auf Belgrad. Es wurde während der | |
Nato-Bombardierung im Kosovo-Krieg von 1999 vollkommen zerstört. Ich frage | |
einen Passanten, ob diese Ruine eine Art von Kriegsmahnmal sei. Es stellt | |
sich heraus, dass der Passant Tomislav heißt und viele Jahre als | |
Gastarbeiter in Frankfurt am Main gearbeitet hat. Im fließenden Deutsch | |
sagt er: „Nein, nein, die serbische Regierung hat einfach kein Geld, um das | |
Gebäude wieder aufzubauen.“ | |
Und nachdem Tomislav, 53 Jahre alt, kräftige Statur, beeindruckender | |
Bauchumfang, erfahren hat, dass ich Journalist bin, sagt er noch: „Erzählen | |
Sie bitte den Leuten in Deutschland, dass Belgrad eine weltoffene und | |
tolerante Stadt ist, die zu Europa gehört. Wir haben all die Kriege und den | |
Nationalismus satt. Damit wollen wir nichts mehr zu tun haben. Wir gehören | |
zu Europa!“ Und tatsächlich hat der fremde Beobachter den Eindruck, dass | |
die Menschen hier einfach nur noch ein friedliches Leben führen wollen. | |
Am Abend treffe ich Nemanja und ein paar seiner Freunde wieder. Wir | |
besuchen die Vernissage einiger Belgrader Künstler in einer Stadtvilla im | |
„Park 25. Maj.“ Es sind nur wenige Gäste gekommen. „Siehst du“, sagt | |
Nemanja, „für Kunst interessiert sich in dieser Stadt kein Schwein.“ Wir | |
verlassen die Vernissage, die, na ja, eher durchschnittlich war. Auf dem | |
Weg Richtung Innenstadt kommen wir an einem unbelebten Bahnhof vorbei, | |
dessen Anblick bei Svetozar, einem jungen bärtigen Informatiker, eine | |
Wutrede auslöst. Er erklärt mir, dass man hier vor 40 Jahren damit begonnen | |
habe, einen neuen Belgrader Hauptbahnhof zu errichten. | |
Aber all das Geld sei in korrupten Kanälen versickert. Es folgt ein zwanzig | |
Minuten anhaltender Monolog über die desolate Situation der serbischen | |
Eisenbahnverkehrsnetzwerke, die mit den Worten endet: „Was soll man von | |
einem Land halten, das es innerhalb von 40 Jahren nicht geschafft hat, | |
einen gottverdammten Hauptbahnhof zu bauen.“ Well, denke ich, mal schauen, | |
wie viel Jahrzehnte noch bis zur Inbetriebnahme des neuen Berliner | |
Flughafens vergehen werden. | |
Unser Ziel ist ein kleiner Park, der Vojvode Vuka, in der Nähe der | |
Einkaufsmeile Knez Mihailova. Der Park ist von Hochhäusern umschlossen, | |
junge und alte Menschen sitzen trinkend und plaudernd auf den Sitzbänken | |
und Grünflächen der Parkanlage. Zwei Freunde von Nemanja, Aleksandar und | |
Zlatko, haben eine Gitarre und eine Ziehharmonika mitgebracht. Der | |
Freundeskreis singt serbische Volkslieder, alle scheinen die Texte zu | |
kennen, ihr gemeinsames Singen versetzt einen in eine andere, in eine | |
vormoderne Zeit. | |
## Party im Park | |
Um halb zwei bin ich mit den Getränken dran. Die Verkäuferin in dem kleinen | |
24-Stunden-Supermarkt um die Ecke hat das Radio aufgedreht und tanzt zu | |
Daft Punk und Pharrell Williams „Get Lucky“. Während ich bezahle, frage ich | |
sie, warum sie so glücklich ist. Sie sagt: „Weil ich einen wunderbaren Mann | |
und zwei bezaubernde Kinder habe. Und zu einem dritten Kind werde ich ihn | |
auch noch überreden.“ Dabei wünsche ich ihr, bevor ich den Laden verlasse, | |
noch viel Glück. | |
Um halb drei, der Park ist immer noch gut besucht, kommt die Polizei. Die | |
zwei Streifenbeamten diskutieren mit den Parkgästen und sind sichtlich | |
überfordert. Sie holen Verstärkung, einige Polizisten berühren als Beweis | |
ihrer Macht immer wieder ihren Pistolenhalter. Dann ist die Party beendet. | |
Später ziehe ich mit Nemanja und Elena noch ein wenig durch die Belgrader | |
Nacht. Der Verkehr braust und tost genau so laut wie am Tage. Die Menschen | |
gehen, trotz erhöhten Alkoholpegel, freundlich und respektvoll miteinander | |
um. Es gibt hier nahezu kein Balkan-Macho-Gehabe und die Frauen laufen – | |
ohne männliche Begleitung – auch noch zu später Stunde angstfrei und | |
stöckelschuhsicher durch die Stadt. Um sechs Uhr morgens, nach einigen | |
Bieren in irgendwelchen Bars, lassen wir die Nacht mit einer Pljeskavica, | |
einer Art serbischem Hamburger, am Slavija Platz ausklingen. Eine Stunde | |
später fährt mein Bus zum Flughafen. | |
3 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Alem Grabovac | |
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