# taz.de -- Mittelpunkt der EU: Die Mitte ist am Arsch der Welt | |
> Es gibt Leben in Westerngrund, man muss es nur suchen. Die | |
> unterfränkische Gemeinde ist seit 2014 der geografische Mittelpunkt der | |
> EU. | |
Bild: Anlass zur Freude: Im Juli 2013 verschob sich die Mitte der EU von Hessen… | |
WESTERNGRUND taz | Am Morgen wirkt Westerngrund wie ausgestorben. Die | |
Gemeinde im unterfränkischen Landkreis Aschaffenburg besteht aus den drei | |
ineinander übergehenden Dörfern Huckelheim, Oberwestern und Unterwestern | |
und hat 1.900 Einwohner. Es ist noch kühl, der Himmel flimmert blau, | |
unaufhörliches Vogelgezwitscher ist zu hören. Über den Bürgersteig läuft | |
hektisch eine Katze, ein Brötchen- und Zeitungsholer hat die Kapuze tief | |
ins Gesicht gezogen. Der in einer Senke gelegene Ort ist von Wiesen und in | |
der Ferne von in einen milchigen Schleier gehüllten Wäldern umgeben. | |
Doch dann, in Oberwestern, der Hinweis auf die Sensation des Ortes. In der | |
Schulzengrundstraße, am Ende des Dorfes, zeugen schon von Weitem fünf | |
Fahnen vom geografischen Mittelpunkt der Europäischen Union, der hier seit | |
dem Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 auf einer Wiese liegt. Ein paar | |
Bänke stehen dort, auf dem Boden liegen Zigarettenstummel und zerknüllte | |
Taschentücher. In den Rasen sind in sechs Meter Größe die Buchstaben EU | |
eingelassen. Eine Tafel informiert über Koordinaten und die offizielle | |
Berechnung des Mittelpunktes. | |
Das französische Institut national de l’information géographique et | |
forestière ermittelt den Mittelpunkt, indem man sich die EU als an einer | |
Schnur aufgehängte Fläche vorstellen muss und sich an ihrem Mittelpunkt | |
genau im Gleichgewicht befindet. Da ist es nur schlüssig, dass sich, | |
seitdem am 1. Januar 2014 die im Indischen Ozean gelegene französische | |
Inselgruppe Mayotte der EU beigetreten ist, der Mittelpunkt verschiebt. Für | |
Westerngrund keine wirkliche Katastrophe. Die neue Mitte wird etwa 500 | |
Meter entfernt auf einer Anhöhe Richtung Kleinkahl zwar außerhalb des | |
Dorfes liegen, aber immerhin noch auf der Gemarkungsgrenze. | |
Aber wo nur sind die Menschen in diesem Ort, die Ende Mai zur Europawahl | |
aufgerufen sind? Die mit einem Sportdress bekleideten drei Frauen, die | |
plötzlich in die Hauptstraße einbiegen, sind im ersten Moment ahnungslos, | |
wollen aber grundsätzlich wählen gehen. | |
## Autos und Erdmännchen | |
Ein 79-Jähriger, der zusammen mit seinem Border-Collie sein Pferd zur | |
Koppel bringt, findet sich zu alt zum Wählen, stellt aber erst einmal fest: | |
„Doch nur mit dem gedruckten Geld der EZB wird die Wirtschaft am Laufen | |
gehalten.“ Er glaubt, dass es noch einmal Bürgerkrieg in Deutschland geben | |
wird, und prognostiziert mit schelmischem Lachen Uli Hoeneß als Nachfolger | |
von Angela Merkel. Und er verabschiedet sich mit einer weiteren Mutmaßung: | |
„Der letzte Krieg hat 55 Millionen Menschenleben gefordert, der nächste | |
wird viermal so viele Opfer fordern.“ | |
Anzeichen von Kampf und Feindschaft sind in Westerngrund nicht zu spüren. | |
Wie aus ihren Höhlen kommende Erdmännchen tauchen plötzlich Menschen auf, | |
die genauso schnell von den Bürgersteigen verschwunden sind. In die leere | |
Stille des Ortes weht der leichte Wind das Leben der Menschen als Gerüche | |
einiger Höfe herbei – nach Mist oder verbrennenden Gartenabfällen. Nicht | |
nur die in Koppeln gehaltenen Schafe, Ziegen, Hühner, die versorgt werden | |
müssen, zeugen von menschlichem Dasein, sondern auch die gepflegten | |
Vorgärten, in denen Frühlingsblumen und Sträucher blühen. | |
Wo aber halten sich die Menschen bei diesen fast schon sommerlichen | |
Temperaturen auf? Vor allem in den vorbeifahrenden Autos. Das Auto scheint | |
hier ein unerlässliches Verkehrsmittel zu sein. Als Westerngrund noch nicht | |
der Mittelpunkt der EU war, kann der Mensch nur einen Grund gehabt haben, | |
hierher zu fahren: Er wollte, weil er in einer der größeren Städte | |
arbeitet, nach Hause. | |
Gearbeitet wird in der Speisegaststätte „Zur neuen Welt“, der Metzgerei | |
Naumann und der Raiffeisenbank jedenfalls nicht mehr. Die Bäckerei | |
Bieberich und die Metzgerei Schumacher sind die einzigen Läden, die noch | |
geöffnet haben. | |
Die mit einer erfrischenden Offenheit und Freundlichkeit ausgestattete | |
Madeleine Roth, die im etwa 30 Kilometer entfernten Ruppertshütten wohnt, | |
ist eine von wenigen, die nach Westerngrund zum Arbeiten fahren. Seit ihrer | |
Ausbildung vor acht Jahren steht sie hinter dem Tresen der Bäckerei | |
Bieberich. | |
## Lampedusa? Nie gehört | |
Auf die bevorstehende Abstimmung am 25. Mai angesprochen sagt die | |
24-Jährige: Wählen müsse sein. Den Schwächeren, also Griechenland, solle | |
geholfen werden. Den Umstand, dass der EU-Arbeitsmarkt seit dem 1. Januar | |
2014 für Rumänen und Bulgaren offen ist, kommentiert sie mit dem Satz: „Die | |
meisten bekommen Kinder und füttern die mit unserem Geld durch.“ | |
Von der Insel Lampedusa und den dort tot oder lebendig ankommenden | |
afrikanischen Flüchtlingen hat sie noch nie gehört. In den letzten drei | |
Jahren urlaubte sie mit ihrem Mann nicht im europäischen Ausland, sondern | |
bei einer in Ägypten lebenden Freundin. | |
Ägypter sind nicht in Westerngrund zu vermuten. Aber leben hier Menschen | |
anderer Nationalitäten? Europäer? In einem Haus in Unterwestern sollen | |
Rumänen wohnen, die sich später als lange hier lebende Russlanddeutsche | |
herausstellen. | |
Das sagen die überaus sympathischen und freundlichen Tabitha und Klaus | |
Holm. Die Tür des hell gestrichenen Hauses öffnet sich ohne Nachfrage. | |
Tabitha geht in den Garten, wo Klaus den Rasen vertikutiert, und kündigt | |
auf Dänisch den Besuch an. Seit 2002 leben der Däne und seine Frau mit | |
ihren zwei Töchtern in Westerngrund, seit 19 Jahren sind sie verheiratet | |
und scheinen zufrieden mit sich. | |
## Die Welt ist in Ordnung | |
Die Dänen wählen zwar auch am 25. Mai, aber zur Europawahl gehen Tabitha | |
und Klaus nicht. Zum einen, weil Klaus keine deutsche Staatsbürgerschaft | |
hat, zum anderen, weil sie Zeugen Jehovas sind und ein Wahlakt mit ihrem | |
Glauben unvereinbar ist. | |
Dieses Gespräch mit Tabitha und Klaus Holm zeigt, dass man in Westerngrund | |
Menschen zu Hause aufsuchen muss, um mit ihnen zu sprechen. Es sei denn, | |
man heißt Robert Heim und schreit von seinem Grundstück in Richtung | |
Bürgersteig und bittet zu sich. | |
Der 59-Jährige sitzt mit seinem Sohn Christian und dem jugendlichen Felix | |
Rosenberger in seinem überdachten, aber offenen Holzhäuschen. In | |
zehnminütigem Abstand komplettieren die Runde: Martin Rosenberger, Vater | |
von Felix, Karl-Peter Honfi, und in Rennradkluft und mit hochrotem Kopf | |
Jürgen Heim, zweiter Sohn von Robert. Zu Europa befragt, bleibt die Runde | |
verhalten, aber wenn es um ihren Ort geht, steigen pure Begeisterung, Stolz | |
und Lokalpatriotismus in ihnen hoch. Und dann fällt der nötige Satz: „Bei | |
uns ist die Welt noch in Ordnung.“ | |
Robert Heim erzählt nun von seiner Familie und deren Müllertradition, zeigt | |
sein Grundstück mit Schwarzwälder Fuchskaltblut und Kamerunschafherde. | |
Christian Heim berichtet begeistert von dem alle zwei Jahre in Westerngrund | |
stattfindenden Oktoberfest und Jürgen Heim von historischen Handelswegen | |
namens Eselsweg und Birkenhainer Straße. Hier erzählen enthusiastische | |
Menschen, die zum Einstieg ins Wochenende eine Flasche Bier vor sich haben | |
und ihre Heimat lieben. | |
Bier wird auch im Huckelheimer Kappellencafé getrunken, in dem um 19 Uhr | |
der zweite Stammtisch zur Dorferneuerung stattfindet. Zu Beginn verliest | |
Marcus Eisel, der für die festliche Einweihung des neuen EU-Mittelpunktes | |
am 10. Mai in Westerngrund verantwortlich war, einen im Juli 2013 | |
veröffentlichen Artikel des Bayerischen Rundfunks vor. Vor etwa dreißig | |
Einwohnern verkündet er: „Abgeordnete beugen sich im Landtag interessiert | |
über eilig ausgelegte Karten – soso, Unterfranken. Interessant. Was ist | |
das? Wo ist das? Gibt es da Leben?“ | |
Ja, es gibt dort Leben. Es scheint friedlich, heil und unbeschwert. Der | |
Gegensatz zu dem Leben an den Grenzen der Europäischen Union könnte nicht | |
größer sein. | |
18 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Schulz | |
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