# taz.de -- Menschenrechtler über die Ukraine: „Eine verbrecherische Fahrlä… | |
> Der russische Menschenrechtler Oleg Orlow über die Militäroperationen in | |
> der Ostukraine, die Fehler der Kiewer Machthaber und Putins Pläne. | |
Bild: Ein pro-russischer Kämpfer eröffnet das Feuer in Slawjansk, um die Waff… | |
taz: Herr Orlow, die Machthaber in Kiew behaupten, dass die | |
Zivilbevölkerung bei den Antiterroroperationen im Osten der Ukraine | |
geschont werde. In den vergangenen Tagen haben Sie gemeinsam mit Ihrem | |
Kollegen Jan Ratschinskij vom russischen Menschenrechtszentrum Memorial | |
mehrere Städte im Osten des Landes besucht. Entsprechen die Angaben aus | |
Kiew den Tatsachen? | |
Oleg Orlow: Unsere Beobachtungen zeigen, dass sich die antiterroristischen | |
Operationen Kiews grundsätzlich von den antiterroristischen Aktionen | |
Russlands im Nordkaukasus unterscheiden. Kiew bemüht sich, die Zahl der | |
zivilen Opfer gering zu halten. Trotzdem wurden immer wieder Zivilisten | |
durch ukrainische Truppen und ukrainische Sonderpolizei getötet. | |
Zuzuschreiben sind diese Opfer einer verbrecherischen Fahrlässigkeit der | |
Kiewer Machthaber. Bezeichnend sind die Ereignisse von Mariupol am 9. Mai. | |
Inwiefern? | |
Nachdem man in der Stadt erfahren hatte, dass sich ukrainische gepanzerte | |
Wagen in Richtung des von bewaffneten Aufständischen besetzten | |
Milizgebäudes bewegten, errichtete die Bevölkerung Straßensperren. Die | |
gepanzerten Wagen schossen nicht auf die Menschen, die sich ihnen | |
entgegenstellten, sondern fuhren an den Straßensperren seitlich vorbei. | |
Erst im Kampf gegen die bewaffneten Besetzer der Milizstation wurde mit | |
scharfer Munition geschossen. Ihren Rückzug vom umkämpften Milizgebäude | |
traten die ukrainischen Einheiten zunächst zu Fuß an. | |
Was geschah dann? | |
Dabei wurden sie von einer wütenden, aber unbewaffneten Menschenmenge | |
angegriffen. Ich kann die Angst der Soldaten verstehen. Sie wussten, was | |
ihnen bevorstehen würde, sollten sie der Menge in die Hände fallen. Und in | |
dieser Situation haben sie geschossen. Ich will den Soldaten selbst gar | |
keine Vorwürfe machen, wohl aber ihren Vorgesetzten. Es ist verbrecherisch, | |
mit Maschinengewehren in eine Menschenmenge zu schießen. Erschwerend kommt | |
noch der Umstand hinzu, dass sich dies ereignete, als sich ein großer Teil | |
der Bevölkerung von Mariupol im Stadtzentrum aufhielt, um den 9. Mai, den | |
Tag des Sieges, zu feiern. | |
War am 11. Mai beim Referendum alles ruhig? | |
Am 11. Mai überfiel die Polizeieinheit „Dnjepr“ ein Wahlbüro in | |
Krasnoarmijsk, in der Nähe von Donezk. Sie besetzten das Wahlkreisbüro und | |
nahmen unter Androhung von Gewalt die Wahlurne mit. Man hätte doch wissen | |
müssen, dass man nicht einfach in ein Wahlbüro eindringen, die Wahlurne | |
mitnehmen und anschließend die Stadt wieder verlassen kann. Als sich | |
spontan eine wütende Menschenmenge vor dem Gebäude versammelte, in dem das | |
Referendum abgehalten wurde, haben diese Idioten von Sonderpolizisten | |
geschossen. Dabei wurden zwei Menschen getötet. Das ist eine | |
verbrecherische Fahrlässigkeit. | |
Sind unter den Aufständischen in der Ostukraine auch russische Soldaten? | |
Ich schließe das nicht aus, habe selbst aber keine gesehen. Sicher weiß | |
ich, dass hier unter den Aufständischen viele sind, die aus Russland | |
kommen. Man kann sie als Söldner bezeichnen oder auch Abenteurer. Sie sind | |
ehemalige Berufssoldaten mit Erfahrungen in kriegerischen Konflikten. Ihre | |
Waffen dürften aus Russland kommen. Möglicherweise werden sie auch aus | |
Russland bezahlt. Unter diesen Russen haben viele einen extrem | |
nationalistischen Hintergrund. Insbesondere die Führung der Aufständischen | |
von Slawjansk hat gute Kontakte zu nationalistischen, halbfaschistischen | |
Organisationen in Russland. | |
Wie sieht es in den von der „Volksrepublik Donezk“ kontrollierten Städten | |
aus? | |
In jeder Stadt gestaltet sich die Kontrolle durch die Aufständischen | |
anders. Sehr angespannt ist die Lage in Slawjansk. Slawjansk ist praktisch | |
völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Die Aufständischen von Slawjansk | |
lassen keine unabhängigen Beobachter in die Stadt. Deswegen konnten auch | |
mein Kollege Ratschinskij und ich Slawjansk nicht besuchen. Sogar Vertreter | |
der „Volksrepublik Donezk“ haben uns in Donezk vor einer Reise nach | |
Slawjansk gewarnt. | |
Warum? | |
Sollten wir dort den von Wjatscheslaw Ponomarjow kontrollierten Einheiten | |
in die Hände fallen, könne man wenig tun, um uns aus den Kellern von | |
Slawjansk herauszuholen, sagte ein Vertreter der „Volksrepublik Donezk“. In | |
Slawjansk ist die Macht vollständig in den Händen extremer und bewaffneter | |
Separatisten. Der Bürgermeister Wjatscheslaw Ponomarjow, ein schrecklicher | |
Mensch, ist ein sehr aggressiver Separatist, der für Entführungen und | |
Verschleppungen verantwortlich ist. Die meisten Bewaffneten in der | |
Ostukraine sind in Slawjansk. Dort befinden sich auch die meisten aus | |
Russland kommenden Bewaffneten. | |
Ziehen die Aufständischen von Slawjansk und Donezk an einem Strick? | |
Formal ja, tatsächlich jedoch herrscht große Konkurrenz. Die Herrscher von | |
Slawjansk führen Befehle der „Volksrepublik“, die aus der Nachbarstadt | |
Donezk kommen, nicht aus. Schließlich, so denkt man unter den | |
Aufständischen von Slawjansk, sei ja Slawjansk die Speerspitze der Bewegung | |
und nicht Donezk. Anders sieht es in Kramatorsk aus. Auch diese Stadt ist | |
von den Separatisten übernommen worden. Doch im Alltag ist dies kaum | |
spürbar. Alle Strukturen funktionieren weiter, städtische Beamte und | |
Bürgermeister gehen wie bisher ihren Aufgaben nach, die Krankenhäuser | |
arbeiten wie gewohnt. | |
Russische Medien berichten von einer humanitären Katastrophe in Kramatorsk. | |
Ich kenne diese Medienberichte aus Russland. Doch ich kann Berichte von | |
einer riesigen humanitären Katastrophe mit massenhaften Verletzten und | |
Toten in Kramatorsk nicht bestätigen. Mein Kollege Ratschinskij und ich | |
waren in Kramatorsk, in der Stadt selbst ist es ruhig. Dort sind alle | |
Geschäfte geöffnet, der medizinische Dienst arbeitet. Natürlich haben die | |
Menschen von Kramatorsk Angst, hören sie doch jeden Tag in der Stadt die | |
Schüsse aus unmittelbarer Nähe vor der Stadt. | |
Was will Putin? | |
Die Ukraine destabilisieren. Eine Angliederung von Lugansk und Donezk an | |
Russland wäre für Putin keine ideale Lösung. Sein Hauptziel ist es, die | |
ukrainischen Machthaber zu zwingen, einer Föderalisierung zuzustimmen, die | |
tatsächlich eine Konföderalisierung ist. Er will eine große Enklave an der | |
Grenze zu Russland, die nur noch formal zur Ukraine gehört. In so einer | |
Enklave werden extreme Separatisten das Sagen haben und sie werden die Lage | |
langfristig destabilisieren. | |
18 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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