# taz.de -- Kommentar Gezi-Jahrestag: Wie wollen wir leben? | |
> Nach einem Jahr halten viele die Gezi-Protest-Bewegung für gescheitert. | |
> Doch der ging es nie um den Machtwechsel, sondern ums Grundsätzliche. | |
Bild: Überdruss am autoritären Paternalismus: Die Gezi-Bewegung 2013. | |
ISTANBUL taz | Heute vor einem Jahr kam es in einem kleinen Park im Zentrum | |
von Istanbul zu ersten Protesten, weil Bauarbeiter im Morgengrauen versucht | |
hatten, Bäume für die Erweiterung einer Straße zu fällen. Was als lokale | |
Aktion begann, entwickelte sich wenig später zur größten | |
zivilgesellschaftlichen Protestbewegung, die die Türkei je gesehen hatte. | |
Ein Jahr später sehen nicht Wenige diese Protestbewegung als gescheitert | |
an. Zwar ist aus dem Gezi-Park noch keine Baugrube für einen weiteren | |
Konsumtempel geworden und es sieht auch nicht so aus, als würde das | |
demnächst passieren, doch der eigentliche Adressat der Proteste, | |
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, sitzt so fest im Sattel wie eh und | |
jeh. Es gibt wenig Zweifel daran, dass er im August zum nächsten | |
Staatspräsident der Türkei gewählt werden wird. | |
Doch diese Analyse greift zu kurz. Die Gezi-Bewegung war nie angetreten, um | |
Erdogan zu stürzen und ein Machtwechsel herbeizuführen. Es ging und geht | |
nicht um kurzfristige machttaktische Fragen. Es geht vielmehr um die Frage: | |
Wie wollen wir leben? | |
## Autoritär, paternatistisch und patriarchalisch | |
Seit Jahrzehnten wird die Türkei von dem Konflikt zwischen einem säkularen, | |
kemalistischen Gesellschaftsverständnis und einer mehr oder weniger stark | |
islamisch geprägten konservativen Schicht gelähmt. Beides sind im Kern | |
autoritäre, paternalistische Gesellschaftsformationen, in denen die | |
Menschen das tun sollen, was ihnen die Regierung, das Militär, der Imam | |
oder der Professor zu sagen haben. | |
Autoritär, paternatistisch und patriarchalisch. Genau das ist es, was die | |
Gezi-Bewegung in Frage stellt. Der erste unmittelbare Protestimpuls war und | |
ist der Wille, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. | |
Warum soll man sich damit abfinden, dass Erdogan den letzten Park im | |
Zentrum von Istanbul zubetonieren lassen will? Wollen wir in einer solchen | |
Stadt leben? Mit diesen Fragen ging es los und schnell war klar, dass die | |
Demonstranten in Istanbul und allen anderen Städten des Landes vor allem | |
ein Gefühl eint: Der Überdruss am autoritären Paternalismus Erdogans, | |
genauso wie am vorhergehenden Paternalismus der Kemalisten. | |
Individuelle Selbstbestimmung, echte Demokratie, Weltoffenheit, Toleranz | |
gegenüber Andersgläubigen oder gar nicht Gläubigen, Teilhabe an einer | |
globalisierten Welt – dass sind die Werte und Parolen, für die die Gezi | |
Bewegung auf die Straße gegangen ist und für die sie weiter klämpfen wird. | |
Erdogan hat diesen Aufstand der modernen Türkei brutal unterdrückt. Um an | |
der Macht zu bleiben, muss er immer mehr Gewalt einsetzen. Seine Regierung | |
hat die Türkei international isoliert, er und seine Mannschaft verlaufen | |
sich immer stärker in einem Labyrinth von Verschwörungstheorien, die mit | |
der Realität wenig zu tun haben. Auch wenn es im Moment nicht so aussieht: | |
diese Macht ist nicht stabil. Der Wunsch nach Demokratie und | |
Selbstbestimmung lässt sich auf Dauer nicht gewaltsam unterdrücken. | |
28 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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