# taz.de -- Im Schwimmbad: Pollen beim Fliegen zusehen | |
> Es gibt ein Leben in der Schule und eins im Schwimmbad. Auch, wenn man | |
> schon erwachsen ist. Stunden im Freibad: Egalheit – den ganzen Tag. | |
Bild: Zurückgeworfen auf Gedanken und Grundbedürfnisse, Lesen, Liegen, Ameise… | |
Es braucht nur die Drehtür, Langnese, die Wärme im Nacken, und du hast | |
deine Kindheit im Kopf. Duschen prasseln. Chlor in der Luft. Fünf Euro | |
fünfzig für Ruhe und Lärm, Enge und Weite, sich in die Becken dazuwerfen zu | |
dürfen, in die sich Menschen geworfen haben, für einen Tag mit | |
Wettschwimmen, Turmspringen, Gänsehaut. Irgendwie sind die Farben grell, | |
das Leben flimmert, später gibt es Gummischnüre. | |
Die Leute sind Schlange gestanden für jenes Gefühl. | |
Jetzt um halb acht morgens im Freibad, sonnig schon, 23 Grad, diesig ohne | |
Wolken, tauchen sie längst auf und ab wie Fische, nur öfter, jeder will | |
eine Bahn, manche wollen zwei. Wer jetzt hier ist, sitzt nicht am Rand und | |
blinzelt geblendet. Wer jetzt hier ist, ist früh aufgestanden, um Sport in | |
seine Woche zu takten oder ein Stück Marseille, einen Urlaubstraum, wie wär | |
das, heute, Muscheln, die Zehen im Sand. | |
Ein Mann krault und notiert seine Bestzeiten, zwanzig Meter, fünfzig Meter; | |
zwei Mädchen turteln geräuschlos. Morgenschwimmer verhalten sich, als | |
hätten sie eine Vereinbarung zum Stillschweigen. Selbst die | |
Eigentümlichkeiten, die allein im Freibad normal sind, scheinen leise: Wir | |
schütteln Wasser aus den Ohren. Wir halten ein Nasenloch zu und leeren das | |
andere. Wir spucken kleine Fontänen. | |
Wenig mehr als das Geräusch aufsteigender Flugzeuge, Vögel fiepen, Wellen | |
schwappen. Hände greifen in Flüssigkeit, Füße stoßen sie ab – ein Rhythm… | |
wie zum Trost, wie Joggen unter Wasser, Kollektivabwehr gegen das Chaos der | |
Welt: Die nächsten Stunden werden ja laut genug. | |
## Wasser wie Samt | |
Die Hitze macht schwer, wenn sie gekrochen kommt – bin träge, bin müde, bin | |
matt –, und lässt zur Leiter schlappen. Dorthin, wo Nasses einen wie Samt | |
umgeben soll, obwohl um diese Zeit nach Takt geschwommen wird, mit einem | |
Sinn für Ordnung und Verkehrsregeln – als wäre das Wasser zackig. Langsam | |
einreihen. Abstand halten. Taucherbrillen- und Badekappenträgern gehört die | |
Vorfahrt. Defensiv bleiben, Raser dulden, die beim Überholen abdrängen. | |
Langsam füllen sich die Wiesen. Einer wirft den Rasenmäher an, guckt rüber, | |
hebt die Schultern als Entschuldigung. „Ich muss das machen“, ruft er dann | |
auch und schaltet, damit er gehört wird, seinen Mäher noch mal aus. „Aber | |
bis ich Keile krieg, mach ich weiter.“ Er berlinert. „Bis Sie was?“ „Na, | |
Keile.“ Er schlägt sich auf die Schultern. „Aber Sie“, berlinert er weit… | |
„Sie sehn ja janz schön müde aus, holn Se sich ma’n Käffchen, am Kiosk. … | |
jibts och stark’n.“ | |
„Sie sehn ja janz schön müde aus“, sagt einer, drüben am Kiosk, der | |
Käffchen verkauft. Die ersten Plastikstühle sind besetzt, Freunde und | |
Paare, hinter ihnen blüht der Flieder rosa, sie sprechen nicht, sie | |
plaudern – Eindrücke wie aus Marseille: zu perfekt, um glaubhaft zu sein. | |
Warum weint eigentlich nie jemand im Freibad? Will, wer trauert, nicht | |
barfuß durch Gras laufen, keinen Salto, keine Pommes rot-weiß? | |
Vielleicht ist das Schöne am Freibad das: dass man zur Langeweile | |
gezwungen, zurückgeworfen wird auf Gedanken und Grundbedürfnisse, Lesen, | |
Liegen, Pollen beim Fliegen beobachten, Ameisen vom Arm wischen. Dass man | |
nur mit dem Kaffeeverkäufer und dem Rasenmähermann redet und mit Menschen, | |
die man mag. Das Ungesunde daran, das Von-allem-zuviel: Man verbrennt sich | |
die Haut, man isst über den Hunger. Buletten, Cornetto, Lippenstifte aus | |
Zucker. Das Verblöden, Unzivilisiertsein: Wir ziehen uns in der | |
Öffentlichkeit um, verschmieren unsere Wangen mit Ketchup. | |
## Das Geschirr spült sich von selbst | |
Elf Uhr, 24,5 Grad, jetzt sind die Alleingänger da – diejenigen, die, falls | |
die letzten Monate grau waren, sehen wollen, wie die kommenden Monate hell | |
werden. Dass sie falsch lagen in der Annahme, in der Nacht zu leben. Man | |
kann im Freibad, ähnlich wie in der Liebe, Egalheit lernen: zu denken | |
lernen, das Geschirr zu Hause spült sich von selbst, die Rechnungen bezahlt | |
jemand anderes. | |
Zwölf Uhr, 25,5 Grad, die Familien kommen und die Cliquen. Mit Eimern waten | |
Kinder durch ihr Planschbecken, eines trägt einen Plastikschwan als | |
Schwimmreif. Teenager holen ihre Smartphones und Handtücher raus. Das | |
Schönste am Freibad ist die Erinnerung, die links und rechts entsteht, | |
mitsamt der Verklärung jener, die in der Jugend gut und schlecht war: | |
Blicke, Küsse. Gekicher, Geläster. | |
Jungs, die aus Zuneigung Bälle auf Mädchen warfen, die Wettbewerbe im | |
Einölen betrieben. Wer besonders braun wurde, war besonders männlich. | |
Mädchen, die sich vom Bauch auf den Rücken auf den Bauch drehten. Philipp, | |
der Neue in der Klasse, den alle hinreißend fanden, wenn ihm die Tropfen | |
vom Haar über die Augen rannen, er bäuchlings auf dem Beton lag und | |
wartete, dass er trocknete. Johannes, der über Lukas sagte, er sei ein | |
verpickelter Loser. David, der über Kerstin sagte, sie habe Brustwarzen so | |
groß wie Fünf-Mark-Stücke. Es gab ein Leben in der Schule und eins im | |
Schwimmbad. Man konnte sich morgens quälen und mittags lieben. | |
Vierzehn Uhr, 27 Grad, Schweiß und Dichte. „Bombeeee!“, Wassertiefe 1,8 m, | |
Wassertiefe 1,3 m, Rauchen verboten, Erste Hilfe, WC, Spritzen, Rauschen, | |
Zeitungen und Sonnenhüte. Oberschenkel glänzen. Männer lungern am Rand. | |
„Soll ich rübertauchen?“ – „Och, nö.“ / „Das war ja von Anfang an… | |
war so störrisch.“ / „Das ist ’ne peinliche Geschichte, fürs ganze Land… | |
„Die Staatsanwaltschaft hat ja …“ / „Das Königshaus hat aber …“ / … | |
ne?“ / „Niedlich, total“ / „Mehmet!“ / „Ey, gestern …“ / „Rut… | |
„Mehmet!“ / „Ist das der, der gar nicht mehr richtig lebt?“ – „Ja, … | |
Um fünfzehn Uhr, 28,5 Grad, gehört der Eingangsbereich den Königen, den | |
Alten, Rotgebrannten, deren Badehosen wenig verdecken. Für sie gibt’s | |
Kassler und Kartoffelsalat, „Prost, Kalle“, sagt die Bedienung und bringt | |
Kalle noch ein Pils. „Morgen komm ich nicht, egal, was für Wetter ist“, | |
antwortet der. | |
## Und lauer Wind | |
Auf den Steintreppen liegen die, die keinen Platz brauchen und keine | |
Geheimnisse haben. Um sechzehn Uhr lächeln dort zwei Verliebte für ein | |
Foto. Pose, klick, Pose, klick. Ihr Pärchenporträt macht Arbeit, aber das | |
macht nichts. | |
Es macht nichts, dass es bald gewittert, die Mücken tanzen, die | |
Apfelschorle schal schmeckt. Du hast jetzt Leere im Kopf. Womöglich fegt | |
der laue Wind im Freibad Probleme weg und Schlagzeilen auch, Merkel, | |
Seehofer, die EU „keine Sozialunion“, die AfD „neue Volkspartei“, Putin, | |
Erdogan, Thailand, Zentralafrika – und bestimmt verleihen Freibadtage nicht | |
diesem Text Relevanz, sondern dem Alltag. | |
„Was soll ich jetzt machen, noch mal Bombe?“, fragt er, etwa zwölf, etwa | |
siebzehn Uhr, 28,5 Grad. „Evet“, sagt sie, etwa zehn, alles fließt | |
ineinander, Schokolade und Vanille, Deutsch und Türkisch, er sie. Daneben | |
sind die Bademeister ihr eigenes Stillleben, wie von Hopper gemalt, in | |
weißen Poloshirts auf ihre Stühle geklebt. „Mach du auch mal.“ – „Ich… | |
aber Bombe nicht.“ – „Ich zeig dir, wie’s geht.“ Er springt für sie.… | |
geil?“ Sie lacht für ihn. „Ja.“ | |
31 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
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