| # taz.de -- Debatte Italiens EU-Ratspräsidentschaft: Merkels letzte Chance | |
| > Mit Matteo Renzi hat die deutsche Politik einen Ansprechpartner, um die | |
| > Verhältnisse in der EU zu ordnen. Wehe, wenn sie den Dialog verweigert. | |
| Bild: Nee, oder? | |
| „Matador“ nannte Angela Merkel mit einer Spur Bewunderung Matteo Renzi, als | |
| sie sich letzte Woche auf dem europäischen Gipfel in Brüssel trafen. Das | |
| Kompliment hat Italiens Regierungschef sich redlich verdient: Er war bei | |
| den Europawahlen die einzige wirklich große Überraschung. | |
| Während anderswo Rechtspopulisten und Linksoppositionelle vormarschierten, | |
| während vor allem in den Krisenländern von Portugal über Spanien bis Irland | |
| oder Griechenland die Regierenden heftig abgestraft wurden, gelang Renzi | |
| das Kunststück, im rezessionsgeplagten Italien aus der Regierung heraus für | |
| seine gemäßigt linke Partito Democratico (PD) knappe 41 Prozent | |
| einzufahren. Nur ein Jahr zuvor hatte die Partei bei den nationalen | |
| Parlamentswahlen bloß 25,4 Prozent erhalten, lag gleichauf mit der | |
| europaskeptischen MoVimento 5 Stelle (M5S) unter Beppe Grillo – diesmal | |
| dagegen wurde Grillos M5S (21 Prozent) um Längen geschlagen. | |
| Für Angela Merkel ist das eine schöne Nachricht. Die Gefahr eines | |
| unaufhaltsamen Vormarschs der Euroskeptiker von M5S ist vorerst abgewendet, | |
| und vorerst verfügt Italien über eine ganz neue, seit Jahren ungekannte | |
| politische Stabilität, dazu noch unter Führung eines Politikers, der immer | |
| die Treue seines Landes zu den europäischen Verträgen betont. | |
| Doch die gute könnte sich schnell als schlechte Nachricht für die Kanzlerin | |
| entpuppen. Der 39-jährige Florentiner verdankte seinen Blitzaufstieg in der | |
| italienischen Politik vor allem der Tatsache, dass er Italien eine neue | |
| Melodie versprach, die Melodie der Wende, raus aus dem Stillstand, raus aus | |
| den eingefahrenen Gleisen, stattdessen Aufbruch und Aufschwung. | |
| ## Aussicht auf Wachstum | |
| Zugleich aber versprach Renzi seinen Wählern zu Hause, ebendieses Stück | |
| auch in der EU zur Aufführung zu bringen – und auch Europa eine neue | |
| Melodie zu verordnen. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, Europa aber | |
| hat noch nichts für Wachstum und Beschäftigung getan“, erklärte am Mittwoch | |
| Renzis Schatzminister Pier Carlo Padoan. Und aus Renzis Umfeld heißt es, er | |
| wolle sein neues Gewicht – keine andere Partei in Europa erhielt mehr als | |
| 40 Prozent – umgehend in die Waagschale werfen, vom 1. Juli an, wenn | |
| Italien die Ratspräsidentschaft übernimmt. | |
| Dann soll eine Wendeagenda auf den Tisch: eine Agenda, die vor allem den im | |
| Krisenkeller hockenden Ländern neue Aussichten auf Wachstum eröffnet. | |
| Merkel-Deutschland kann sich da mit dem Hinweis trösten, dass das | |
| italienische Ratshalbjahr ziemlich ins Leere laufen wird, schon allein weil | |
| die EU-Institutionen, angefangen bei der Kommission, erst ab November | |
| wirklich operieren werden. Und noch einen Trumpf gibt es für Berlin: Einen | |
| vermeintlich starken Gegenspieler hatte Merkel ja erst vor zwei Jahren | |
| erhalten, den damals frisch gewählten französischen Präsidenten, François | |
| Hollande. Ein einziger Streich gelang Hollande, die Durchsetzung der | |
| Bankenunion auf dem EU-Gipfel im Sommer 2012. Seitdem ist der Mann in der | |
| Defensive, zu Hause ebenso wie in Europa. | |
| Gut möglich deshalb, dass Berlin einfach auf ein Weiter-so setzt in der | |
| Hoffnung, dass auch Renzi bald seinen Elan verliert. Doch die | |
| Bundesregierung wäre damit schlecht beraten. Renzis Forderung, über einen | |
| Euro, über eine Eurozone nachzudenken, in der auch der Süden des Kontinents | |
| eine Perspektive hat, ist ja so abwegig nicht. | |
| Und Renzi ist, recht besehen, auch Angela Merkels letzte Chance: die letzte | |
| Chance, mit einem stark legitimierten Politiker Südeuropas einen neuen | |
| Kompromiss zu definieren. Anderenfalls wird der Abmarsch der Wähler | |
| Spaniens, Italiens oder Griechenland aus der Eurozone kaum zu stoppen sein, | |
| werden die politischen Systeme rund ums Mittelmeer traumatische | |
| Erschütterungen erleben. | |
| Das politische Wunder, dass Südeuropa einen starken Frontmann zu bieten | |
| hat, sollte gerade Deutschland nutzen, wenn es Europa nicht weiter | |
| demontieren will. | |
| 9 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
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