# taz.de -- Filmstart „No Turning Back“: Er sah aus wie ein Pferd | |
> Eine Figur, ein Schauplatz, 90 Minuten Echtzeit: Steven Knights Film „No | |
> Turning Back“ erkundet einen Mann in der Krise. | |
Bild: Professionelle Geschäftsmäßigkeit und moralisches Dilemma: Ivan Locke … | |
„Ich habe eine Liste mit Dingen zu erledigen, während ich fahre“, sagt der | |
Protagonist in Steven Knights Ein-Personen-Stück „No Turning Back“, und | |
dabei spiegeln sich die Lichter der Nacht auf seinem Gesicht. | |
Das ist eine überschaubare Prämisse für einen Film, selbst wenn dieser nur | |
knapp 90 Minuten dauert – also etwa die Länge eines Fußballspiels, was in | |
„No Turning Back“ tatsächlich eine Rolle spielt. Ivan Locke, so der Name | |
der Hauptfigur von Knights Film (der im Original einfach nur „Locke“ | |
heißt), vertritt gewissermaßen die klassischen Tugenden des englischen | |
Fußballs. „Er lief unaufhaltsam auf das Tor zu“, beschreibt sein Sohn am | |
Telefon aufgeregt das Siegtor seiner Mannschaft, das der Vater nicht im | |
Kreis der Familie erleben kann. „Er sah aus wie ein Pferd.“ | |
Ähnliches könnte man auch über Locke sagen, der mit einer unumstößlichen | |
Zielstrebigkeit seine „Liste“ abarbeitet, während er seelenruhig seinen | |
BMW-SUV durch den nächtlichen Verkehr zwischen Birmingham und London | |
manövriert. | |
Tom Hardy spielt diesen Locke als einen Mann, der unter Druck bestens | |
funktioniert. Ein Alphatier, das selbst auf dem Fahrersitz noch | |
demonstrativ die Ärmel hochkrempelt. Am nächsten Morgen wird in Birmingham | |
auf der größten Baustelle Europas ein 355 Tonnen schweres Betonfundament | |
gegossen. Aber Locke, der Bauleiter des Projekts, hat in dieser Nacht | |
persönliche Verpflichtungen. Der deutsche Titel „No Turning Back“ könnte | |
nicht plakativer gewählt sein: Der Mann kann nicht zurück. Das klingt | |
schicksalhaft, ist aber kühl und konsequent inszeniert wie Lee Marvins | |
Marsch durch die Institutionen in „Point Blank“. Nur eben im Auto. | |
## +++Vorsicht Spoiler+++ | |
Locke hat in einem emotionalen Drahtseilakt verschiedene Aufgaben von | |
unterschiedlicher Tragweite gleichzeitig zu bewältigen. Sobald er hinter | |
dem Steuer seines BMW sitzt, tritt er in einen fortlaufenden Dialog mit | |
seiner Freisprechanlage. Am anderen Ende, abwechselnd: sein Vorgesetzter, | |
dem er beibringen muss, dass er in den entscheidenden Stunden des | |
Bauprojekts nicht an Ort und Stelle sein kann; sein überforderter | |
Vorarbeiter, den er nun Schritt für Schritt durch den Arbeitsablauf leiten | |
muss; sein Sohn, der zuhause vor dem Fernseher für ein Fußballspiel der | |
Lieblingsmannschaft auf ihn wartet; eine verängstigte Frau, die sich auf | |
dem Weg in den Kreißsaal befindet; und seine Ehefrau, der er am Telefon | |
einen folgenschweren Fehltritt beichten muss. Denn Locke ist auf dem Weg | |
ins Krankenhaus, um einer Frau, die er kaum kennt, bei der Geburt ihres | |
gemeinsamen Kindes beizustehen. | |
## Der Vater fährt mit | |
Das ist ein ambitioniertes dramatisches Konstrukt, noch dazu in Echtzeit | |
erzählt, das mit weniger stilistischer Konsequenz, als Knight sie an den | |
Tag legt, leicht unfreiwillig komisch wirken könnte. Zumal auf dem Rücksitz | |
noch ein imaginärer Beifahrer sitzt, dem Locke etwas zu beweisen hat: sein | |
toter Vater. „Ich habe mich in einer Weise verhalten, die nicht zu mir | |
passt“, erklärt er seinem aufgebrachten Vorgesetzten, der auf dem Display | |
der Freisprechanlage als „Bastard“ angezeigt wird. Eigentlich gilt der Satz | |
seinem Vater. | |
Spätestens da ist klar, dass „No Turning Back“ trotz seines hohen Einsatzes | |
doch wieder nur auf den ältesten Konflikt des abendländischen Dramas, einen | |
Vater-Sohn-Konflikt, zurückfällt. Lockes moralisches Dilemma besteht darin, | |
dass er um jeden Preis ein besserer Mensch als sein Vater sein will, dafür | |
aber die Menschen verletzen muss, die ihm am nächsten stehen. | |
Also betont Knight immer wieder Lockes Anständigkeit (es gab nur diesen | |
einen Fehltritt), um seinen (einzigen) Protagonisten letztlich als positive | |
Identifikationsfigur etablieren zu können. Das funktioniert nur bedingt. | |
Hinter Hardys undurchdringlicher Mimik kommt eine professionelle | |
Geschäftsmäßigkeit zum Vorschein, selbst wenn er mit seiner Frau seine | |
eigene Absolution aushandelt. | |
Der Kameramann Haris Zambarloukos versteht es, dem beengten Raum durch | |
Lichtreflexionen, Spiegelungen auf der Windschutzscheibe, Verkehrslichter | |
und rasche Brennweitenwechsel eine berauschende Tiefe zu verleihen. Doch | |
sein irisierender visueller Minimalismus ist an eine enttäuschend | |
eindimensionale Hauptfigur verloren. Am Ende schreit ein Baby, und ein | |
Fußballspiel ist gewonnen. Fragt sich bloß, ob der erzählerische Aufwand | |
nötig war, nur um wieder mal die kriselnde Männlichkeit zu retten. | |
18 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Andreas Busche | |
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Geburt | |
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Berlin | |
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