| # taz.de -- Filmstart „Tao Jie – A Simple Life“: Eleganz im Normalbetrieb | |
| > Eine beeindruckende Alltagsstudie aus Hongkong: „Tao Jie – A Simple Life�… | |
| > von Ann Hui erzählt von einer Hausangestellten, deren Leben dem Ende | |
| > zugeht. | |
| Bild: Haben ein Abhängigkeitsverhältnis, auch wenn es nicht so aussieht: Ah T… | |
| Ah Tao geht einkaufen. Die Angestellten eines Lebensmittelladens kennen sie | |
| schon, begrüßen sie freundlich, warten geduldig, während die alte Frau eine | |
| Katze begrüßt und sich etwas umständlich ihre Brille aufsetzt. Erst als sie | |
| die Tür hinter sich geschlossen hat, um im Kühlhaus des Geschäfts die | |
| Knoblauchzehen zu inspizieren, brechen sie in ein prustendes Lachen aus | |
| über ihre schrullige Stammkundin. | |
| Ein besonderer Film ist Ann Huis „Tao Jie – A Simple Life“ wegen solcher | |
| genau beobachteter Szenen. Wegen der Aufmerksamkeit, die er jenen Details | |
| schenkt, die in anderen Filmen den großen Dramen geopfert werden: Den | |
| flüchtigen Blickwechseln zwischen Fremden und vage Bekannten, den | |
| zahlreichen kleinen Begegnungen, die das Leben gerade in der Großstadt mit | |
| sich bringt, den unzähligen kleinen Wegen, die im Alltag wieder und wieder | |
| abgeschritten werden, denen für gewöhnlich kein Eigenwert beigemessen wird, | |
| nicht im echten Leben, schon gar nicht im Erzählkino, das nur so schnell | |
| wie möglich von A nach B, von plot point zu plot point gelangen will. | |
| Ann Huis Film wartet dagegen geduldig auf Ah Tao, wenn sie nach dem Einkauf | |
| langsam die Treppen zu der Wohnung erklimmt, in der sie gemeinsam mit dem | |
| Filmproduzenten Roger (Andy Lau) lebt. | |
| Ein besonderer Film ist „A Simple Life“ auch deshalb: Weil er sich ganz auf | |
| die Geschwindigkeit und auf die Perspektive seiner Hauptfigur einlässt. Ah | |
| Tao war ihr Leben lang Hausangestellte, arbeitete für drei Generationen | |
| einer wohlhabenden Familie. Diese Familie ist inzwischen zu weiten Teilen | |
| nach Amerika ausgewandert, geblieben sind nur Roger und eine alte Frau, die | |
| in ihrer Gegend, durch die sie sich zwar langsam, aber mit einer durchaus | |
| eleganten Gleichmut bewegt, jede Katze beim Namen kennt. | |
| ## Verlust der Souveränität | |
| Doch alle Souveränität ist bald hin, auf einen Schlag, mit einem | |
| Schlaganfall; ein eindrücklicher Moment ist das: eine intime Großaufnahme, | |
| eine von wenigen im Film, in der plötzlich alles Weltwissen, alle | |
| Selbstverständlichkeit von einem Menschen abfällt. Ah Tao ist danach nur | |
| noch bedingt mobil und zieht auf eigenen Wunsch – sie, die ihr Leben lang | |
| nur für andere gesorgt hat, will ja nicht selbst irgendjemandem zur Last | |
| fallen – in ein Altersheim, in dem im Folgenden ein Großteil des Films | |
| spielt. | |
| „A Simple Life“ ist insbesondere auch – zur Beruhigung sei hinzugefügt: … | |
| Weitem nicht nur – für all jene ein Fest, die das Hongkongkino schon etwas | |
| genauer kennen (und lieben). Das beginnt bei der männlichen Hauptrolle: | |
| Andy Lau ist schon seit einer gefühlten Ewigkeit eines der bekanntesten | |
| Gesichter des asiatischen Kinos. Hui, in deren „Boat People“ er einst seine | |
| erste größere Rolle hatte, macht sich sanft über das glamouröse Image ihres | |
| Stars lustig, wenn dieser im Film mal mit einem Handwerker, mal mit einem | |
| Taxifahrer verwechselt wird. | |
| Und wenn sich Roger mit den Regisseuren Tsui und Hung in einer Bar trifft, | |
| um ein Filmprojekt zu besprechen, dann sitzt da eine ganze kleine | |
| Filmgeschichte an einem Tisch: Tsui Hark und Sammo Hung gehören, wie Lau, | |
| im echten Leben zu den zentralen Figuren der Filmindustrie Hongkongs – | |
| gemeinsam dürften die drei über die Jahre, in unterschiedlichen Funktionen, | |
| an ein paar Hundert Filmen beteiligt gewesen sein. | |
| ## Eine Familienangelegenheit | |
| Die beeindruckende Hauptdarstellerin Deannie Yip wurde auf dem | |
| Internationalen Filmfestival von Venedig für diese Rolle 2012 mit dem Preis | |
| für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet, vor „A Simple Life“ war sie | |
| zwar meist nur in Nebenrollen zu sehen, dafür aber ist sie Laus Patentante. | |
| Das Hongkongkino: eine Familienangelegenheit. | |
| Die Regisseurin von „A Simple Life“, Ann Hui, zählt seit über drei | |
| Jahrzehnten zu dieser Familie. Anfang der 1980er Jahre war sie eine der | |
| zentralen Filmemacherinnen der Neuen Welle des Hongkongkinos, einer | |
| Filmbewegung, die den Versuch unternahm, das Kino der damaligen britischen | |
| Kronkolonie mithilfe wagemutigerer Ästhetiken und vorher tabuisierter | |
| sozialer Themen zu erneuern. | |
| In Hongkong selbst blieb Hui seither so konstant erfolgreich wie nur wenige | |
| andere Filmemacher aus ihrer Generation, „A Simple Life“ ist ihr 25. | |
| Kinofilm, allerdings erst der zweite, der wenigstens einen kleinen | |
| deutschen Kinostart erhält. DVD-Veröffentlichungen ihrer Filme hat es | |
| bisher hierzulande noch überhaupt keine gegeben – über die weitgehende | |
| Nichtrezeption des asiatischen Kinos in Deutschland ist damit eigentlich | |
| schon alles gesagt. | |
| Freilich setzt sich Hui mit ihren Filmen auch zwischen alle Stühle | |
| (beziehungsweise: zwischen die wenigen, die zur Verfügung stünden …). Im | |
| Gegensatz zu Kollegen wie Tsui Hark oder Wong Kar-Wai dreht sie weder die | |
| ganz großen, spektakulären Blockbuster noch durchgestylte, auf die | |
| internationale Festivalszene zugeschnittene Arthousefilme. | |
| Huis Arbeiten sind zwar ebenfalls stets äußerst elegant gefilmt, gehen aber | |
| doch vom Normalbetrieb des Kinos aus. Sie hat in allen wichtigen Genres der | |
| Filmindustrie Hongkongs gearbeitet: Komödie, Melodram, Horror, Thriller, | |
| Martial Arts. Vom Mainstream heben sich ihre Filme nicht ab, weil sie auf | |
| Abstand zu diesen Genres gehen, sondern ganz im Gegenteil, weil sie sie | |
| ernst nehmen: als Geschichten, die Menschen zustoßen. | |
| ## Mal sentimental, mal nüchtern realistisch | |
| Hui denkt ihre Filme von den Figuren her, nicht von abstrakten Konzepten. | |
| „A Simple Life“ zum Beispiel hätte leicht entweder ein verkitschtes | |
| Sozialdrama werden können, das falsche Versöhnungen zelebriert, oder fader, | |
| menschenfeindlicher poverty porn, der die Härten der Gesellschaft einfach | |
| nur verdoppelt. Stattdessen hält der Film die Balance zwischen | |
| verschiedenen Tonlagen, kippt immer wieder unvermittelt vom Tragischen ins | |
| Komische, ist manchmal fast schon unverschämt sentimental, im nächsten | |
| Moment wieder nüchtern realistisch – und wie nebenbei entwirft er auch noch | |
| eine komplette Familienchronik. | |
| Huis Filme schlagen sich stets auf die Seite des Individuums, zeigen | |
| komplexe emotionale Verstrickungen auf, die in soziologischen Thesen | |
| genauso wenig aufgehen wie in den erzählerischen Routinen des Genrekinos. | |
| „A Simple Life“ weiß, dass es grundsätzlich falsch ist, wenn ein Mensch v… | |
| einem anderen abhängig ist, wenn also zum Beispiel eine Frau wie Ah Tao ihr | |
| Leben um Ersatzbeziehungen herum organisieren muss und am Ende dann doch – | |
| fast – alleine dasteht. | |
| Aber der Film weiß auch, dass es nicht viel weiterhilft, solche | |
| Abhängigkeitsverhältnisse auf persönliche Schuld umzurechnen und zum | |
| Beispiel Ah Tao gegen Roger auszuspielen. Vielmehr hat man den Eindruck, | |
| dass der Filmproduzent auf noch grundsätzlichere Art einsam ist als seine | |
| Hausangestellte. | |
| Denn am Ende ihres Lebens findet Ah Tao doch noch eine Gemeinschaft, der | |
| sie sich als Gleiche unter Gleichen zurechnen darf. Im Aufenthaltsraum des | |
| Altersheims wird sie erst misstrauisch beäugt, die Klassenschranke kann sie | |
| auch hier nicht problemlos überwinden. Doch der nahende Tod ebnet alle | |
| Differenzen ein. Und er lenkt ein wenig ab vom Narzissmus, gibt den Blick | |
| frei auf die Mitmenschen. | |
| Ganz bei sich selbst ist Ann Huis Kino in den Szenen im Altersheim, die mit | |
| leichter Hand die Biografien anderer Heimbewohner skizzieren: Da gibt es | |
| die uralte Frau, die von Innen gegen das Türfenster klopft, nach draußen | |
| will, obwohl draußen schon lange niemand mehr auf sie wartet; oder den noch | |
| deutlich virileren Mann, der bei jeder Gelegenheit unter falschem Vorwand | |
| Geld erbettelt, das er gleich anschließend in einem Bordell in der | |
| Nachbarschaft ausgibt. Roger ist sauer, als er ihm auf die Schliche kommt. | |
| Ah Tao nicht: „Lass ihn doch seinen Spaß haben, solange er noch kann“, | |
| meint sie. | |
| 24 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lukas Foerster | |
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