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# taz.de -- Die Krim nach dem russischen Anschluss: Bereit, die Heimat abzugeben
> Unsere Autorin wurde auf der Krim geboren und verließ die Halbinsel im
> Frühjahr. Jetzt kehrte sie zurück – in ein fremdes Land.
Bild: Touristisch geht es auf der Krim derzeit eher ruhig zu.
Zwei Monate war ich nicht mehr in meiner Heimat, der Krim. Voller Ungeduld
besteige ich den Zug „Lwow–Simferopol“ und steige in einem anderen Land a…
– in Russland.
Die Luft ist noch dieselbe. Aber die ukrainische Flagge auf dem
Bahnhofsgebäude durch eine russische ersetzt. Ich blicke in gereizte,
selbstsichere Gesichter. Es fahren nur noch halb so viele Züge auf der Krim
und die, die noch fahren, verspäten sich regelmäßig um ein bis zwei
Stunden. Der Grund dafür ist: Zwischen dem ukrainischen Festland und der
russischen Halbinsel – zwischen meinem Land und meiner Heimat – verläuft
jetzt eine Grenze.
Ukrainische Staatsbürger, die keine Registrierung auf der Krim besitzen,
müssen eine Migrationskarte ausfüllen und dürfen maximal neunzig Tage auf
der Halbinsel bleiben. Doch auch denen, die im Besitz einer Registrierung
sind, wird es nicht leicht gemacht. Eine Freundin, die seit acht Jahren auf
der Krim wohnt, aber auf dem ukrainischen Festland gemeldet ist, verließ
vorübergehend die Krim. Als sie zurückkehrte, wurde ihr vom russischen
Grenzschutz Spionage und Kollaboration mit dem Westen vorgeworfen.
Der ukrainische Grenzschutz ist nicht minder streng. Im April verließ ich
die Krim und musste eine erniedrigende Prozedur über mich ergehen lassen:
An der Grenze sollte ich mich, Staatsbürgerin der Ukraine mit Registrierung
auf der Krim, rechtfertigen, warum ich denn in die Westukraine ausreise.
## Langsamer Saisonstart
Während der Zugverkehr nur schleppend vorangeht, boomt der Luftverkehr. Vom
Flughafen Simferopol fliegen täglich mehr als 15 Flugzeuge nach Moskau,
Sankt Petersburg und Rostow am Don. Marktführer ist die tschetschenische
Airline „Grosni-Avia“. Die Touristensaison auf der Krim beginnt nur
langsam. Einzige Stadt, der es nicht an Touristen fehlt, ist Sewastopol,
Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Schon zur Siegesfeier am 9.
Mai kamen viele russische Staatsbürger in die Stadt. Viele von ihnen
blieben gleich für einige Monate. Ob die russichen Gäste den Mangel an
ukrainischen ausgleichen können, wird man aber erst in ein paar Wochen
beurteilen können.
Auf der Krim ist die russische Flagge allgegenwärtig. Die ukrainische hatte
hier nie eine solche Präsenz. Prorussisch eingestellte Bewohner erkennt man
bereits an ihren Autokennzeichen: Die besonders Eifrigen haben, um
patriotischen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ihr ukrainisches
Nummernschild gegen ein russisches eingetauscht, Autoaufkleber mit der
ukrainischen Flagge entfernt und solche mit der russischen aufgeklebt. Nur
die Krimtataren sind mutig genug, ihre Autos mit der eigenen Nationalflagge
zu bekleben. Noch kümmert es die Staatliche Autoinspektion nicht.
Ein Bankensystem ist auf der Krim quasi nicht existent. Die ukrainischen
Banken mussten schließen, die russischen haben ihre Tätigkeit noch nicht
aufgenommen. „Bank Rossija“ kann man jetzt auf Schriftzügen der alten
Bankgebäude lesen. Eine einzige Bank ist noch in Betrieb, da sie keine
Filialen auf dem Festland besaß. Für die Bewohner ist das eine Katastrophe:
Viele haben ihre Ersparnisse verloren. Sie zurückzubekommen, gestaltet sich
als schwierig. Wer Überweisungen tätigen will, muss sich in eine meterlange
Schlange einreihen.
Ich habe das Pech, Geld überweisen zu müssen. Vor der Bank treffe ich auf
eine Schlange mit zwanzig Menschen. Ich werde gleich einem Mitarbeiter
zugewiesen, der mit einer Liste vor der Bank wartet. Ich erhalte die Nummer
161. Ein junges, leicht genervtes Mädchen erklärt mir, dass die Nummer nur
für den heutigen Tag gelte, dass die Warterei Tage dauern könnte und ich
meine Nummer daher jeden Tag um Punkt 18 Uhr vor der Bank bestätigen müsse.
Sollte ich einmal nicht erscheinen, würde meine Nummer gleich von der Liste
gestrichen.
## Vergessene Regierung
Ich beschließe, bis zur vorgegebenen Uhrzeit zu warten. Viertel vor sechs
schart sich bereits eine Menschentraube vor der Bank. Eine Frau mit einem
dicken Ordner erscheint. Punkt 18 Uhr werden die Namen aufgerufen. Dann
bekommen die Wartenden neue Nummern, die sie der Kasse der Bank
näherbringen.
Als die Nummer 161 aufgerufen wird, ist das nicht mein, sondern ein anderer
Familienname. Die Wartenden erklären mir, dass die Liste von voriger Woche
verlesen wird und nicht die von heute. Zum Schluss wird mir die Nummer 342
zugewiesen: In drei Wochen kann ich meine Überweisung tätigen. – Es fällt
mir schwer zu glauben, dass die Menschen dieses absurde Theater hinnehmen.
Sie hüten ihre Notizzettel mit den langen Zahlenreihen. Politik ist kein
Thema während des stundenlangen Wartens: Die alte Regierung scheint bereits
vergessen und die Angst, die neue zu kritisieren, zu groß.
Am schwersten hat es die jungen Menschen auf der Krim getroffen. Kurz nach
dem Referendum wurde den Schul- und Hochschulabgängern versprochen, dass
sie zwischen einem ukrainischen und russischen Diplom wählen können. Einige
Tage bevor sie ihr Diplom erhalten sollten, wurde ihnen mitgeteilt, es gebe
nur russische Diplome. Das Problem dieser Diplome ist, dass sie, außer in
Russland, nirgends anerkannt werden. Das Referendum über den Anschluss der
Krim an Russland wurde von der UNO-Vollversammlung mit großer Mehrheit für
ungültig erklärt. Immerhin hat das ukrainische Bildungsministerium alle
Absolventen der Krim dazu aufgerufen, ihre Diploma auf dem ukrainischen
Festland bestätigen zu lassen.
## Totale Überwachung
Hochschuldozenten und Lehrer werden für proukrainische Äußerungen vom
russischen Geheimdienst, dem FSB, vorgeladen und müssen sich erklären. In
Jalta sangen Schüler bei ihrem Abschlussfest zur Melodie der russischen
Nationalhymne den ukrainischen Text und verbreiteten das Ganze über soziale
Netzwerke. Eine Woche später verloren einige Lehrer der Schule ihre Arbeit,
die Eltern der Schüler wurden zur Rechenschaft gezogen – das alles spielt
sich 2014 auf der Krim ab, und nicht etwa in der Sowjetunion.
Seit der Annexion gibt es auf der Krim keine Miliz mehr, sondern nur noch
die Polizei – und die patrouilliert überall. 95 Prozent der Polizisten
stammen aus Russland, sie stehen für die totale Überwachung – und bedeuten
für viele zugleich Sicherheit.
Hrywna, die ukrainische Währung, wurde am 1. Juni 2014 auf der Krim
abgeschafft. In den letzten Maitagen waren die Supermärkte berstend voll.
Viele Menschen bezahlten mit ihrem letzten Gehalt, das sie noch in Hrywna
ausgezahlt bekommen hatten, an der Kasse wurden Hrywna als auch Rubel
angenommen. An russischem Kleingeld mangelt es noch. Besonders in den
öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Frust groß, da das Rückgeld knapp ist.
Trotzdem behaupten die Behörden hartnäckig, dass die Krim auf die
Währungsumstellung vorbereitet war.
Ich kann nicht behaupten, dass in den Supermärkten ein Defizit an
Lebensmitteln herrscht. Nur noch ein Teil der alten ukrainischen
Lieferanten beliefert die Halbinsel. Krimwein ist rar geworden. Auch die
Schokoladenmarke „Roshen“, die dem neuen ukrainischen Präsidenten Petro
Poroschenko gehört, kann man seit einem Monat nicht mehr in den Geschäften
finden. Das Schlimmste ist, dass es keine Preiskontrolle gibt. Die
Rubelpreise sind in manchen Geschäften dreimal so hoch wie die Preise in
Hrywna, in anderen sogar fünfmal. Im Durchschnitt haben sich die Preise in
den letzten Monaten mehr als verdoppelt. Wirkliche Patrioten kennen darauf
die immergleiche Antwort: „Das ist nur vorübergehend, wir können warten.“
## Sie hassen die Regierung
Am glücklichsten mit dem Wechsel sind Beamte und Rentner. Jeden Monat
erhalten sie 25 Prozent mehr Lohn. Da aber gleichzeitig die Preise
gestiegen sind, profitieren sie nicht wirklich von der höheren Zahlung.
Andere, deren Gehälter nicht erhöht worden sind, zum Beispiel private
Arbeitnehmer, sind ärmer als zuvor. Die meisten Journalisten und Aktivisten
haben die Krim bereits vor Wochen verlassen, unter ihnen vor allem junge
Hochschulabsolventen. Geblieben sind nur Optimisten, die daran glauben,
dass alles besser wird, wenn man durchhält.
In meinem Elternhaus schaut man traditionell ausschließlich russisches
Fernsehen. Vor meiner Anreise habe ich meine Verwandten darum gebeten,
während meiner Anwesenheit den Fernseher auszuschalten. Es ist erstaunlich,
wie sehr sich ihre Stimmung in dieser kurzen Zeit verändert hat. Wut und
Nervosität sind verflogen. Plötzlich können wir uns neben Politik auch noch
über andere Themen unterhalten. Was die Kiewer Regierung anbetrifft, sind
sich die Menschen einig: Sie hassen die Regierung für den Krieg gegen das
eigene Volk. Sie glauben fest daran, dass es im Donbass weder Terroristen
noch Kosaken noch Tschetschenen gibt, sondern nur Aufständische und
Zivilisten.
Mein persönlicher Schmerz ist schwächer geworden. Trotzdem wundere ich mich
immer wieder darüber, dass Menschen so schnell ihr Bewusstsein ändern
können und sich plötzlich als Patrioten eines anderen Landes fühlen.
Während meiner Recherche wandten sich viele Bekannte an mich und baten
mich, doch „die Wahrheit“ über die Krim zu berichten. Die Wahrheit klingt
aus dem Mund der Krimbewohner so: „Wir sind froh, jetzt russische
Staatsbürger zu sein.“ „Die Benzinpreise sind gesunken.“ „Wir sind mit
allem zufrieden, besonders die Beamten sind es.“ „Unsere Städte entwickeln
sich weiter.“ „Wir haben bei dem Referendum nicht unter Waffengewalt
abgestimmt.“
## Vergessene Annexion
Das Problem der Krimbewohner ist, dass sie sich in den vergangenen 23
Jahren weder als Russen noch als Ukrainer fühlen konnten. Nach der
„heldenhaften“ Rettung der Krim durch Russland können sie sich endlich als
Patrioten in ihrem neuen Vaterland verstehen. Denjenigen, denen das nicht
gefällt, wird mit Abscheu begegnet.
Nach allem, was ich hier gesehen habe, glaube ich nicht mehr daran, dass
die Krim wieder ukrainisch werden kann. Auch Kiew scheint die Krimfrage
nicht mehr zu interessieren. Noch vor den schrecklichen Ereignissen im
Osten des Landes hatte man die Annexion vergessen. Wenn der Anschluss an
Russland aber der Preis war, den die Ukraine zahlen musste, um ihre
demokratische Zukunft und Einheit zu stärken, dann bin ich bereit, meine
kleine Heimat abzugeben.
Übersetzung Ljuba Naminova
21 Jun 2014
## AUTOREN
Ana Gordijenko
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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