| # taz.de -- WM-Kolumne Ordem e progresso: „Verlorene Kugeln“ | |
| > Täglich sterben in Brasilien Menschen durch Polizeigewalt. Während der WM | |
| > jubeln bei den Spielen der Seleção trotzdem alle gemeinsam. | |
| Bild: Auf den Straßen, vor den Stadien, überall: Die brasilianische Polizei i… | |
| „Olá, alles fein?“ „Tudo bem, und du?“ Schon seit Wochen habe ich nicht | |
| mehr mit Ângelo gesprochen. Vitória, die Hauptstadt des Bundesstaates | |
| Espírito Santo, zwischen Rio und Bahia, ist kein WM-Spielort. „Schon im | |
| WM-Klima?“, frage ich. „Ja, natürlich. Guter Auftakt für uns, hier sind | |
| alle sicher, dass es der Hexa (der sechste Titel) wird.“ | |
| „Und sonst?“ „Stell dir vor! Als wir unsere Straße schmückten, kam ein | |
| Streifenwagen vorbei. Er tuschierte die Leiter, auf der einer von uns | |
| stand. Er fiel zu Boden und beschwerte sich. Da schoss ihm der Polizist ins | |
| Bein, einfach so. Noch diese Woche wird sein Bein abgenommen, es war nicht | |
| zu retten.“ | |
| „Wie habt ihr reagiert, was passiert jetzt?“ „Nichts. Keiner wird darüber | |
| sprechen. Eine Anzeige ist zu gefährlich. Du weißt, hier in der Favela …“ | |
| Ângelo scherzt noch, es sei wie beim Fußball, Tatsachenentscheidung der | |
| Schiedsrichter, Reklamationen werden bestraft. | |
| Alltag in Brasilien. Die Leute leben damit, es war schon immer so. Auch ich | |
| habe mich daran gewöhnt, seit vielen Jahren lebe ich mit diesen | |
| Nachrichten. Die Wut schiebe ich weg oder ertränke sie in Heldenträumen | |
| über Rächer und Gerechtigkeit. | |
| ## Ein Trauma mit sehr realen Folgen | |
| Alltag, aber doch nicht meiner. In dem Brasilien, in dem ich lebe, gibt es | |
| weniger Willkür, Gewalt ist eher ein Unfall, der immer und überall | |
| passieren kann. Ein Freund sagte einmal, dass die Gewalt heute viel | |
| schlimmer sei als zu Zeiten der Militärdiktatur: Damals war es politische | |
| Repression, danach soziale. Inzwischen bringen „Sicherheitskräfte“ sehr | |
| viel mehr Menschen um als damals. Aber die Straflosigkeit ist geblieben. 50 | |
| Jahre ist der Putsch her, und eine Aufarbeitung steht in Brasilien immer | |
| noch nicht an. Ein Trauma mit sehr realen Folgen, das schwerer wiegt als | |
| die vielzitierte Niederlage von 1950 im Maracanã. | |
| Als Journalist stumpft mensch noch schneller ab. Gerade suchte ich mal | |
| wieder nach Neuigkeiten, was machen die Proteste? Das WM-kritische Komitee | |
| postete, dass am Montag in der Favela Cidade de Deus im Westen Rios ein | |
| 12-Jähriger von einem „Querschläger“ tödlich getroffen wurde. Die Polizei | |
| hatte Jagd auf Drogenhändler gemacht, es kam zu einer Schießerei. Das | |
| Übliche, nirgends eine Meldung wert. Ich war zu der Zeit im Maracanã, | |
| irgendwie hatte ich es geschafft, ein Ticket für das Argentinien-Spiel zu | |
| ergattern. In meinem Brasilien gibt es solche schönen Zufälle oft. | |
| Diese „verlorenen Kugeln“ sind die zweithäufigste Begründung für tödlic… | |
| Polizeischüsse. Die häufigste ist „Notwehr“, auch wenn der Schuss in den | |
| Rücken ging. Statistisch gesehen hat die Polizei in Rio de Janeiro gestern | |
| Nacht zwei Menschen umgebracht. Diese Nacht werden es wieder zwei sein, | |
| morgen auch. Und wenn Brasilien das nächste mal spielt, werden alle wieder | |
| gemeinsam mitfiebern. | |
| 22 Jun 2014 | |
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| Andreas Behn | |
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