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# taz.de -- Debatte kurdische Gebiete im Irak: Die Türkei entscheidet
> Ist ein eigenständiges Kurdistan jetzt möglich? Das hängt davon ab, ob
> die Türkei ihre Abhängigkeit von Öl aus Russland und Iran reduzieren
> will.
Bild: Kurdistan im Irak: Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten beobachten d…
Als ich am 10. Juni in den Irak zurückkehrte, hatte die irakische Armee in
der zweitgrößten Provinz des Landes bereits kapituliert. Die Bedrohung
durch die Terrorgruppe ISIS, die sich neuerdings nur noch Islamischer Staat
(IS) nennt, war offenbar zu groß. Daraufhin gelang es den Kurden, viele der
Gebiete zu sichern, die für sie historisch zu Kurdistan zählen. Die
irakischen Kurden hoffen nun, dass sie einen unabhängigen kurdischen Staat
ausrufen können – doch das wird nur möglich sein, sofern die Türkei grünes
Licht gibt. Von ihr hängt letztlich alles ab.
Seit dem Ersten Weltkrieg ist die kurdische Bevölkerung auf vier Staaten
verstreut (Iran, Irak, Türkei und Syrien). Da der Autonomen Region
Kurdistan jeder Meerzugang fehlt, konnte bislang keine Unabhängigkeit
durchgesetzt werden. Es kam zu Aufständen, doch eine Staatenbildung
scheiterte.
1991 richtete der Westen dann eine Flugsverbotszone über dem nördlichen und
südlichen Irak ein. Das erlaubte den Kurden, 1992 eine eigene Regierung zu
bilden: die Kurdische Regionalregierung (KRG). Die kurdische Autonome
Region umfasste damals die Provinzen Duhok, Erbil und Sulemanija. Nach dem
Fall von Saddam Hussein wurden die Kurden als eine der gut organisierten
politischen Gruppen im Irak zum Königsmacher in der Politik.
Doch dann kam es 2005 zum Streit. Anlass war das Bestreben der Kurden,
unabhängig von der Zentralregierung in Bagdad Öl zu exportieren. Zudem
wollten sie auf Grundlage des Paragrafen 140 Kirkuk – das kurdische
Jerusalem – in die kurdische Autonome Region integrieren. Der Paragraf
wurde 2007 für ungültig erklärt. Auch die Provinzen Mossul und Dijala
sollten eingemeindet werden.
## Die Türkei als Geburtshelferin
Die Kurden hatten extrem unter der Arabisierungspolitik durch die
Baath-Partei während des Iran-Irak-Krieges in den 1980er Jahren zu leiden.
In dieser Zeit wurden bei dem Angriff auf Anfal laut UN 180.000 Menschen
ermordet. Die von Hussein angeordnete Giftgasattacke auf die Stadt
Halabdscha forderte zwischen 3.200 und 5.000 Menschenleben.
Trotz der grausamen Geschichte der Arabisierung durch das Hussein-Regime
lehnen noch heute viele Iraker die Annexion des ölreichen Kirkuk durch die
Kurden aus vollem Herzen ab. Sie fürchten zu Recht, dass das der Wendepunkt
zu einem unabhängigen Staat im Irak sein könnte.
Der irakische Premierminister Nuri al-Maliki, ein Schiit und irakischer
Nationalist, provozierte die Kurden 2008 mit der irakischen Armee und hätte
fast einen Krieg zwischen den Peschmerga, also den kurdischen Kämpfern, und
den irakischen Streitkräften vom Zaun gebrochen. Die internationale
Gemeinschaft sorgte sich indessen, dass jeder Schritt der Kurden in
Richtung Unabhängigkeit die Region destabilisieren könnte. Entsprechend
setzten die USA und die EU alles daran, eine solche zu verhindern.
Doch nun sieht es so aus, als ob ausgerechnet die Türkei die
Geburtshelferin für eine kurdische Unabhängigkeit werden könnte. Sie
nämlich hat großes Interesse an den riesigen Gas- und Ölvorkommen auf
kurdischem Gebiet. Hatte Erdogan früher den kurdischen Präsidenten Barsani
stets abfällig als Stammesführer bezeichnet und ein Treffen mit ihm
abgelehnt, ist dieser nun zu einem der wichtigsten Verbündeten
aufgestiegen. 2011 eröffneten Barsani und Erdogan gemeinsam und ganz
offiziell den Flughafen von Erbil und das türkische Konsulat. Diese
180-Grad-Wendung hat wirtschaftliche Gründe.
## Wasser und Öl
Die Türkei hat einen enormen Energiebedarf und ist bislang hinsichtlich Öl
und Gas von Russland und Iran abhängig. Um diese Abhängigkeit zu
minimieren, bemüht sie sich darum, zu einem Knotenpunkt für den Verkauf von
Öl und Gas aus der gesamten Region zu werden. Umgekehrt ist für die
irakischen Kurden die Türkei der zentrale und wichtigste Abnehmer für ihr
Öl, um von Bagdad unabhängig werden zu können. Ohne die Einnahmen aus dem
Öl- und Gasgeschäft wird es keinen eigenen Staat geben.
2013 haben die Kurden trotz des Widerstands aus Bagdad eine Pipeline in die
Türkei gebaut und exportieren seit diesem Mai eigenständig dorthin. Bagdad
rächte sich, indem es den kurdischen Anteil aus dem Zentralbudget des
Landes zurückhält und ausländische Firmen, die im kurdischen Ölgebiet
operieren, mit Klagen überzieht.
Dank der neuen Einnahmen im ölreichen Kirkuk sprechen die Kurden heute von
einer post-Mossul-Ära und wollen ihre Ölexporte mithilfe einer weiteren
Pipeline in die Türkei, die Ende 2015 fertig sein soll, aus das Achtfache
steigern. Sie soll Öl von Kirkuk in die Türkei liefern, die Erlöse will man
dann mit Bagdad teilen. In seinen Kommentaren hat Präsident Barsani zudem
immer wieder angedeutet, dass die aktuellen Kämpfe im Irak die
Unabhängigkeit für die Kurden bedeuten könnten.
Die große offene Frage aber ist und bleibt, ob die Türken eine neuen
kurdischen Staat an ihrer Grenze akzeptieren werden. Obwohl die Türkei
gerne vom Ölreichtum Kurdistans profitieren würde, haben sie selbst eine
riesige kurdische Minderheit im eigenen Land. Die Probleme damit sind
bekannt. Umgekehrt können die Kurden ihr Öl nur über die Türkei verkaufen �…
da ihnen eben jeder Zugang zum Meer fehlt. Entsprechend abhängig sind sie
von Erdogans Entscheidung.
## Einstellen auf die neuen Realitäten
Nach einem Treffen zwischen Erdogan und irakischen Kurden in Ankara schlug
Ersterer vor, dass die Iraker eine Regierung der Nationalen Einheit
einrichten sollten; auch die USA und die EU drangen darauf. Maliki aber
lehnte den Vorstoß rundweg ab. Für ihn kommt eine Inklusion von Sunniten
und Kurden nicht infrage.
Wie bedrohlich ist nun die Landnahme von IS für einen kurdischen Staat?
Letztlich stellt IS keine sonderliche Bedrohung dar. Ihr zentrales Ziel ist
Bagdad. Die Kämpfe um die Hauptstadt werden die Kurden daher weitgehend
unbehelligt lassen. Bagdad seinerseits wird versuchen, die von IS
kontrollierten Gebiete zurückzuerobern, mit Unterstützung durch den Iran
und die Russen und mit begrenzter Hilfe durch den US-Geheimdienst – auch
dieser Konflikt wird die kurdischen Gebiete nicht tangieren.
Es ist nun an der Türkei, sich zu entscheiden. Einfach ist das nicht. Für
einige innerhalb der Regierung steht bereits fest, dass die Teilung des
Irak unvermeidlich sei und die Türkei sich schleunigst auf die neuen
Realitäten einstellen sollte. Israel hat bereits beschieden, dass die
kurdische Unabhängigkeit auf jeden Fall kommen wird, und die USA diese
Wirklichkeit doch bitte anerkennen mögen.
Indessen deutete Iran seinen strikten Widerstand gegen ein unabhängiges
Kurdistan an. Doch seine Mittel, die Kurden zu bedrohen, sind begrenzt.
Übersetzung aus dem Englischen von Ines Kappert
1 Jul 2014
## AUTOREN
Wladimir van Wilgenburg
## TAGS
Kurdistan
Irak
„Islamischer Staat“ (IS)
Irak
Kurden
Schwerpunkt Syrien
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