# taz.de -- taz-Serie Jüdisches Leben: „Es entsteht eine neue Gesellschaft“ | |
> Warum sich junge Israelis von Berlin stark angezogen fühlen, erklärt | |
> Cilly Kugelmann, die stellvertretende Leiterin des Jüdischen Museums. | |
Bild: Berlins jüdische Party- und Kulturszene boomt, und eine neue Generation … | |
taz: Frau Kugelmann, das Jüdische Museum widmet seine Sommer-Kulturreihe | |
dem Thema „Israelis in Berlin“. Warum dieser Schwerpunkt? | |
Cilly Kugelmann: Weil diese Gruppe in Berlin immer größer wird. 15.000 sind | |
es laut der israelischen Botschaft, Schätzungen gehen von bis zu 30.000 | |
aus. Wie viele es tatsächlich sind, weiß keiner genau. Klar ist aber: Es | |
ist keine Handvoll, es ist ein Phänomen. Und zwar ein außerordentliches | |
interessantes. | |
Warum? | |
Zum einen, weil Berlin früher nicht zu den Städten gehörte, in die viele | |
Israelis hingefahren sind. Und zum Zweiten, weil wir es zum ersten Mal in | |
Deutschland mit einer Gruppe jüdischer Zuwanderer zu tun haben, die nicht | |
Mitglied einer Jüdischen Gemeinde werden. Das tun normalerweise die, die | |
nicht als Juden in Erscheinung treten, von ihrem Judentum keinen Gebrauch | |
machen wollen. | |
Wer kommt denn genau? | |
Vor allem gut ausgebildete jüngere Leute. Durchaus auch solche, die konkret | |
auf Jobsuche sind. Es sind eher selten Familien mit Kindern, die hierher | |
übersiedeln, auch wenn es das vereinzelt geben mag. Und es sind sehr viele | |
darunter, die deutsche oder europäische Großeltern haben. Die können ja die | |
deutsche oder entsprechend andere europäische Staatsbürgerschaften bekommen | |
– und damit auch die Freizügigkeit innerhalb der EU. | |
Warum ist Berlin denn plötzlich für sie attraktiv geworden? | |
Berlin ist aus vielen Gründen interessant. Junge Israelis zieht einerseits | |
genau das an, was junge Menschen aus der ganzen Welt derzeit nach Berlin | |
zieht: Es ist eine Stadt, die noch nicht ganz fertig, noch nicht festgelegt | |
ist – eigentlich eine riesige hässliche Großstadtbrache, in der es noch | |
sehr viele Nischen für Kunst, für Musik gibt und die noch bezahlbare Mieten | |
hat. Zum anderen haben wir es heute mit der Generation der Enkel oder gar | |
Urenkel derjenigen zu tun, die das mitgemacht haben, was wir Holocaust | |
nennen. Natürlich ist die Erinnerung an die Massenvernichtung der Juden | |
durch die Nationalsozialisten in der israelischen Gesellschaft immer noch | |
sehr präsent – aber für die jungen Leute auch sehr weit weg. Berlin ist | |
deshalb für eine Generation, die das alles nur noch vom Hörensagen kennt, | |
faszinierend wegen seiner Geschichte. | |
Wie ist denn die Reaktion auf diese Wanderungsbewegung in Israel? | |
Für Israel ist das wirklich ein Braindrain, ein Auszug gut ausgebildeter | |
junger Leute. Das ist ein Problem für das Land. Israel bildet viele | |
Menschen gut aus, die dann keine entsprechenden Jobs finden. Diese jungen | |
Leute ziehen weg, und zwar nicht nur nach Deutschland. Es gehen aber gerade | |
die Menschen, die Distanz zur israelischen Politik haben. Und es bleiben | |
die zurück, die eher dem politischen Lager zuzurechnen sind, das die | |
derzeitige Regierungspolitik unterstützt. Es sind vorwiegend die Kritiker | |
und Liberalen, die das Land verlassen. | |
Woher kommt die Distanz gegenüber der Jüdischen Gemeinde hier? | |
Da bin ich mir nicht sicher, aber ich kann mir vorstellen, dass es die | |
Israelis überhaupt nicht interessiert, was eine Jüdische Gemeinde hier | |
macht. Weil sie sich nicht in erster Linie als Juden empfinden, sondern als | |
Israelis, wozu das Jüdischsein in gewisser Weise dazu gehört – aber eben | |
nicht wie hier. Hier ist die jüdische Identität das, was die Juden vom Rest | |
der Bevölkerung unterscheidet. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist eine | |
Kultusgemeinde, deren Aufgabe in erster Linie darin besteht, dafür zu | |
sorgen, dass religiöse Einrichtungen wie Friedhöfe oder Synagogen vorhanden | |
sind. Und zur Berliner Gemeinde gehören in erster Linie russische Juden, | |
die sehr säkular aufgewachsen und hier gerade damit befasst sind, sich neu | |
zu orientieren. Die Israelis fühlen sich da eher fremd, das ist nicht ihr | |
Anliegen. | |
Sind die deutschen Juden also jüdischer als die Israelis? | |
Die Juden, die hier leben, sind keine Israelis. Für einen Israeli ist das | |
Jüdische so relevant oder irrelevant wie für einen deutschen Staatsbürger, | |
der nicht Jude oder Muslim ist, das Christentum. Die Zugehörigkeit zu einer | |
Religionsgemeinschaft steht für die meisten nicht ganz oben auf der Agenda. | |
Man ist Christ, weil man als solcher geboren und aufgewachsen ist und geht | |
vielleicht bestenfalls noch Weihnachten in die Kirche. So ähnlich halten es | |
auch viele Israelis mit dem Judentum. Während die hier aufgewachsenen Juden | |
– und dazu würde ich auch die ehemaligen sowjetischen Juden zählen, sich in | |
ihrer Differenz zu den übrigen Deutschen über das Judentum definieren – | |
sind die Israelis eher eine von den vielen Nationalitätengruppen, die hier | |
in Deutschland leben. | |
Wenn man als Israeli hierherkommt, guckt man also nicht zuerst einmal, was | |
die Jüdische Gemeinde hier so macht? | |
Es ist eher so, dass eine eigene israelische Infrastruktur entsteht. Es | |
gibt mehrere Websites, es gibt israelische Immobilienfirmen, die auf | |
Hebräisch Wohnungen in Berlin anbieten, es gibt Hilfe bei der Jobsuche und | |
so weiter. | |
Aber auch wenn das Religiöse eine geringe Rolle spielt, ist doch die | |
Entscheidung für Deutschland und für Berlin eine, die spätestens beim | |
Kontakt zu Eingeborenen den Punkt des Jüdischseins berührt. Man wird | |
vermutlich ständig mit der Frage konfrontiert: Wie könnt ihr als Juden aus | |
Israel hierherkommen? | |
Natürlich ist es etwas anderes, in Berlin zu sein als in Straßburg oder | |
London. Hinter der Entscheidung für diese Stadt steckt auch eine | |
historische Neugierde auf eine Gesellschaft, deren Vergangenheit durch eine | |
mörderische Geschichte mit den eigenen Vorfahren verbunden ist, die sich | |
aber inzwischen sehr verändert hat, was sich in Berlin besonders deutlich | |
zeigt. Hier gibt es weniger soziale Einschränkungen, als ich es anderswo | |
auf der Welt erlebt habe. Es ist, als habe die Trümmerlandschaft der | |
Nachkriegszeit mit einer Zeitverschiebung von einigen Jahrzehnten zu einer | |
Zertrümmerung von Konventionen geführt. Natürlich gibt es immer noch | |
kleinbürgerliche Ressentiments, es gibt Neonazis. Aber auf der anderen | |
Seite gibt es eine sehr offene Gesellschaft, in der viel mehr möglich ist | |
als an den meisten anderen Orten auf der Welt. | |
Wie wird sich diese Entwicklung, sofern sie nicht nur eine Episode ist, | |
auswirken auf das jüdische Leben hier? Wird sie den Zerfall der jüdischen | |
Einheitsgemeinde beschleunigen, indem sie zu weiterer Vielfalt führt? | |
Diese Erosionsprozesse der jüdischen Einheitsgemeinden betreffen ja nicht | |
nur Berlin. Sie haben meiner Meinung nach damit zu tun, dass den Gemeinden | |
die faktische Integration der russischsprachigen Zuwanderer übertragen | |
wurde. Damit sind sie in die Rolle von Versorgungseinrichtungen gekommen, | |
wie das Arbeits- oder Sozialamt – und wer hat dazu schon eine gute | |
Beziehung? Man kommt dort als abhängiger Bittsteller hin. Und die Jüdische | |
Gemeinde ist damit nur mehr eingeschränkt in der Lage, die spirituellen und | |
intellektuellen Aufgaben zu übernehmen. In beider Hinsicht spielen die | |
Israelis keine Rolle. Sie wollen und sie brauchen nichts von der Gemeinde, | |
sie sind unabhängig von ihr. Tatsächlich festigt sich dadurch eine größere | |
Pluralität jüdischer Lebensentwürfe, die nicht mehr über eine Gemeinde | |
gebündelt werden – eine Entwicklung, in der ich keinen großen Nachteil | |
sehen kann. | |
In der deutschen Öffentlichkeit, der Politik, den Medien, gibt es starke | |
Reaktionen auf die Zuwanderer aus Israel. Alle sind stolz darauf, dass | |
wieder Juden, Israelis gar, nach Berlin ziehen. | |
Es ist ja auch ein großes Kompliment für ein sich wandelndes Berlin – oder, | |
wenn man so will, für eine sich wandelnde deutsche Gesellschaft – wenn ein | |
dreiviertel Jahrhundert nach einer Epoche von Verfolgung und Mord eine | |
nennenswerte Zahl von Angehörigen der früheren Opfergruppe ausgerechnet | |
nach Berlin kommt. Und es ist ganz wichtig, zu verstehen, dass hier gerade | |
etwas ganz Neues entsteht. Es geht hier nicht um die Rückkehr zu | |
irgendeiner Normalität, die es mal gab. Denn die gab es nie, da gibt es | |
nichts anzuknüpfen. Es entsteht eine völlig veränderte neue Gesellschaft. | |
In Israel sind neue Generationen herangewachsen, die in der aktuellen | |
Politik eine eigene Position haben wollen und die auch ein Gespür für die | |
Instrumentalisierung der Geschichte haben. Und auch hier sind neue | |
Generationen herangewachsen, die im Bewusstsein einer katastrophischen und | |
verbrecherischen Vergangenheit nicht mehr der einfachen Dichotomie von | |
Tätern und Opfern folgen, sondern andere, neue Fragestellungen erarbeiten | |
wollen. Das sind gänzlich neue Voraussetzungen für Gemeinsamkeiten: | |
keineswegs ein Zurück zur Normalität, sondern etwas ganz Neues, das | |
natürlich mit Versatzstücken des Alten aufgeladen ist. | |
9 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Hannah Arendt | |
Juden | |
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Synagoge | |
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