| # taz.de -- Flüchtlinge aus der Ostukraine: Es gibt kein Zurück | |
| > „Anfangs hätten ein paar Soldaten gereicht, um diese Banditen zu | |
| > verhaften“, sagt Oleg Dmitriew. Im Juni hat er mit seiner Familie Donezk | |
| > verlassen. | |
| Bild: Ein Team von Psychologen nimmt am Bahnhof von Lviv Flüchtlingskinder aus… | |
| LVIV taz | Kostja* sitzt auf dem großen Doppelbett in einem kleinen Zimmer, | |
| das er mit seinen Geschwistern Alex und Mascha teilt. Am Kopfteil des | |
| Bettes stehen zwei kleine Nachttischchen, dazu noch ein paar Stühle. Für | |
| mehr reicht der Platz nicht. | |
| Kostja trägt ein rotes T-Shirt und Bermudas. Es macht ihm offensichtlich | |
| Spaß, über sein neues Leben zu erzählen. „Es ist schön hier, wie in den | |
| Ferien. Es gibt einen Fluss, und wir wandern fast jeden Tag in den Bergen. | |
| Da haben wir sogar eine Natter gesehen“, berichtet der Zwölfjährige. Früher | |
| hat Familie Dmitriew die Ferien immer am Wasser verbracht, weg von Donezk | |
| mit seiner schlechten Industrieluft, von der die Kinder Allergie bekamen. | |
| Diesmal sind es keine gewöhnlichen Ferien. Seit einem Monat leben die | |
| Dmitriews in einem Schulheim in Strilky, einem kleinen Ort in den | |
| westukrainischen Karpaten. Es ist ein vierstöckiger Bau aus den 70er | |
| Jahren, der vor ein paar Jahren renoviert wurde. Das Schulheim ist für eine | |
| Anstalt dieser Art gut ausgestattet. Neue Küche und Duschräume, nagelneue | |
| Betten in den Schlafsälen, moderne Zahnarztstation, eine Nähstube und eine | |
| Tischlerei. Das Geld dafür kam aus Privat- und Firmenspenden zusammen, | |
| nicht vom Staat. Die Gegend mit dem Fluss, einer maroden Straße, armen | |
| Bauernhäusern und einer Bergkette im Hintergrund strahlt eine romantische | |
| Tristesse aus. | |
| In den Sommerferien steht das Haus, das bis zu 200 Internatsschüler | |
| aufnehmen kann, leer. Die Dmitriews verfügen über zwei Zimmer und eine | |
| kleine Küche im Erdgeschoss. | |
| ## „Es war schon ein mulmiges Gefühl“ | |
| Anfang Juni hat die Familie die Stadt Donezk in der Ostukraine verlassen. | |
| Ihre Wohnung lag in der Nähe der Putilowskyj-Brücke, auf dem Weg zum | |
| Flughafen, der von Separatisten eingenommen worden war. Hin und wieder | |
| waren Schüsse in der Stadt zu hören. „Es war schon ein unheimliches Gefühl. | |
| Aber eine echte Gefahr spürten wir da noch nicht“, berichtet mit ruhiger | |
| Stimme Oleg. 42 Jahre alt, sitzt der Familienvater auf einem Hocker in der | |
| Küche, das eng anliegende weiße T-Shirt lässt erahnen, dass er viele | |
| Stunden beim Krafttraining verbracht hat. | |
| „Mal feuerten die Rebellen im Stadtzentrum zur Freude der Babuschkas ein | |
| paar Salven in die Luft, mal lieferten sich die einzelnen Gruppen der | |
| Kämpfer untereinander kurze Gefechte. Von den ukrainischen Truppen war weit | |
| und breit nichts zu sehen. Vorsichtshalber ließen wir die Kinder nicht in | |
| die Schule.“ Den Kindern hätten sie erzählt, dass Menschen ihre Teppiche | |
| ausklopfen würden, ergänzt Olegs Frau Elena. „Das klang nicht sehr | |
| überzeugend, aber wir wollten ihnen nicht sagen, dass geschossen wird.“ | |
| Elena ist zierlich und stark geschminkt, sie steht am Herd und macht Tee | |
| für alle. | |
| Die Dmitriews haben ein bewegtes Leben hinter sich. Oleg wurde in Schdanow | |
| geboren, einer Industriestadt am Asowschen Meer, die in der Sowjetzeit zu | |
| Ehren eines Stalin-Vertrauten umbenannt wurde. Heute trägt sie wieder ihren | |
| ursprünglichen Namen Mariupol. Zwei Riesenhüttenwerke qualmen damals wie | |
| heute den Himmel voll. „Bei uns zu Hause war die Sicht nie klar, immer hing | |
| ein Nebelschleier in der Luft. Im Winter fiel brauner Schnee vom Himmel.“ | |
| Die Schule besuchte Oleg in Jakutien, seine Eltern ließen sich dort in der | |
| Hoffnung auf ein besseres Einkommen nieder. | |
| Zurück in Mariupol, absolvierte Oleg die Musikfachschule und später das | |
| Konservatorium in Donezk. Ende der 1990er reiste er noch zu Wettbewerben | |
| nach Deutschland, danach handelte er mit Gebrauchtwagen, bis er schließlich | |
| nach Donezk zurückkehrte und im Baugeschäft landete. Sein Knopfakkordeon | |
| hat er schon lange nicht mehr in der Hand gehabt. | |
| ## Große Zukunftspläne | |
| Seine Frau Elena ist in Donezk aufgewachsen und war als Au-pair-Mädchen in | |
| Deutschland. Ein paar Semester hat sie Germanistik in Hannover studiert. | |
| Dann beschlossen Oleg und Lena, nach Donezk zurückzukehren. Zunächst wollte | |
| sie ihr Studium an der Uni von Donezk fortsetzen. Als sie erfuhr, dass | |
| dafür ein Schmiergeld von umgerechnet tausend Dollar fällig wäre, war es | |
| vorbei mit dem Traum. Für die junge Familie ein Vermögen. Letztlich fand | |
| sie einen Job in einem Schönheitssalon. | |
| Alex starrt zum Fenster hinaus und antwortet auf alle Fragen nur einsilbig. | |
| Er ist dreizehn, ein Jahr älter als Kostja. Das sieht man ihm auch an – er | |
| ist kräftiger und größer als sein Bruder. Vielleicht will er zeigen, dass | |
| er auch verantwortungsvoller ist und nicht so viel mit Fremden plaudert. | |
| Vielleicht ist er vom Charakter her nicht sehr gesprächig. Vielleicht sind | |
| es aber die traumatischen Erlebnisse, die er noch nicht verarbeitet hat. | |
| Als die ukrainische Armee die Rebellen angriff, um den Flughafen | |
| zurückzuerobern, war die Hölle los. „Unsere Fenster gehen nach Süden und | |
| Westen hinaus, also direkt zum Schlachtfeld.“ Am frühen Nachmittag flogen | |
| Jagdflugzeuge tief über die Stadt und feuerten Wärmefallen gegen Raketen | |
| ab. Dann hörte man irgendwo in der Nähe des Flughafens Explosionen. „Es | |
| hörte sich an wie Donner“, erinnert sich Kostja. Kämpfe gab es auch im | |
| benachbarten Wald. Jemand schrie, viele Menschen huschten durch die | |
| Straßen. In der Nacht konnte man die Explosionen auch sehen. „Mascha hat | |
| sich im Bad versteckt und die ganze Zeit geweint“, erinnert sich Elena. | |
| Selbst jetzt, wenn sie die Geschichte erzählt, vergräbt sich das | |
| siebenjährige Mädchen unter ihrem Arm. | |
| Am nächsten Tag kehrte Ruhe ein, der Flughafen befand sich unter Kontrolle | |
| der ukrainischen Armee. Nur die Leichen im Wald wurden mehrere Tage nicht | |
| geborgen, der Gestank zog mit dem Wind in die Stadt. Oleg konnte sich | |
| selbst ein Bild von der Zerstörung in der Nachbarschaft machen. Hier und da | |
| ein abgebrannter Militärlastwagen, Blutlachen und Leichen auf dem Asphalt. | |
| „Die Rebellen waren zum ersten Mal zurückgeschlagen worden.“ | |
| ## Erst schlossen sich nur Einheimische an | |
| Oleg versteht nicht, warum die Regierung so spät reagiert hat. „Als das | |
| Ganze anfing, hätte eine Kompanie Soldaten gereicht, um diese Banditen zu | |
| verhaften. Als die Rebellen gesehen haben, dass nichts passiert, sind immer | |
| neue Kämpfer nachgekommen. Dadurch sind wir alle zu Geiseln geworden.“ | |
| Die Polizei stand auf der Seite der Separatisten. Oleg hat selbst gesehen, | |
| wie Polizisten mit ihnen gemeinsam an Straßensperren kontrolliert haben. | |
| „Zunächst waren es nur Einheimische. Einige Dutzend Arbeitslose aus den | |
| benachbarten Städtchen, ein paar Säufer, ein paar Kleinkriminelle“, | |
| erinnert sich Oleg. „Es war uns schon ein bisschen mulmig, aber keiner hat | |
| sie ernst genommen. Dann kamen die Kämpfer aus Russland. Und plötzlich | |
| konnte niemand mehr etwas machen.“ | |
| Die Separatisten hätten vor allem unter den Rentnern ihre treuen Anhänger | |
| gehabt, berichtet Elena. „Sie trauern der Sowjetunion nach, der billigen | |
| Wurst und kostenlosen Behandlung im Krankenhaus“, sagt sie traurig. Doch | |
| selbst diese seien heute teilweise von den Separatisten enttäuscht. Bei | |
| jüngeren Menschen und bei den Unternehmern sähe es ohnehin anders aus. Oleg | |
| meint, dass ein Drittel der Unternehmer in seiner Region zwar für enge | |
| Beziehungen mit Russland sei, aber in einer unabhängigen Ukraine leben | |
| wolle. | |
| ## Erpresserische Tätigkeiten | |
| Das aber versuchen die Rebellen zu verhindern. Ganz nebenbei betreiben sie | |
| in Donezk ihr Räuberhandwerk. „Einigen Bekannten von uns haben sie das Auto | |
| konfisziert. Diese Banditen haben ja auch das Finanzamt eingenommen. Nun | |
| erpressen sie Leute mit höheren Einkommen. Sie nehmen Geiseln und verlangen | |
| Lösegeld“, empört sich Oleg. | |
| Selbst in den Marschrutkas, den kleinen Sammeltaxen, die zwischen Donezk | |
| und den Vororten verkehren, müsse man draufzahlen. Beim Einsteigen erinnere | |
| der Fahrer daran, dass die Frauen ihren Schmuck verstecken und alle | |
| Fahrgäste einen Zwanzig-Hrywnja-Schein parat halten sollten. Den Betrag | |
| müsse man dann als „Spende“ für die „Donezker Volksrepublik“ bei der | |
| Passkontrolle am Checkpoint zahlen. Wer sich weigert, kommt erst gar nicht | |
| in den Bus hinein. | |
| In den vergangenen Wochen wurde die Stadt immer leerer, „nachmittags war | |
| Donezk wie ausgestorben“, erinnert sich Elena. Nach den Kämpfen um den | |
| Flughafen beschlossen auch die Dmitriews zu fliehen. | |
| Olegs Bruder, der nach dem Studium in Moskau eine Stelle in der Vertretung | |
| eines westlichen Lebensmittelkonzerns in der russischen Hauptstadt bekommen | |
| hatte, bot ihnen an, die Familie oder zumindest die Kinder aufzunehmen. | |
| Oleg und Elena lehnten ab. Das Verhältnis zwischen den Brüdern war zuletzt | |
| angespannt. „Er unterstützt Putin. Ich frage ihn immer, ob er die | |
| vermeintlichen ukrainischen Faschisten gesehen hat. In Donezk etwa oder auf | |
| der Krim? Ich werde meine Kinder nie nach Russland schicken, in diese | |
| Diktatur, zurück in die Sowjetunion.“ | |
| ## Disziplin und Lernen | |
| Kostja und Alex stürmen in den Hof, auf den Sportplatz, wo sie sich | |
| austoben können. Auch Dorfkinder kommen manchmal zum Spielen vorbei. Jeden | |
| Tag stehen für beide Brüder ein paar Turnübungen auf dem Programm. Dann | |
| lernen sie Fremdsprachen mit einem Computerprogramm – Deutsch, Englisch und | |
| Französisch. Disziplin steht bei der Familie ganz oben. | |
| Die Dmitriews haben gewartet, bis sich die Lage etwas beruhigt hatte. Die | |
| Flüchtlings-Hotline bot ihnen dann das Schulheim in den Karpaten als | |
| provisorische Unterkunft an. „Mehr Hilfe haben wir vom Staat nicht | |
| bekommen. Kein Kindergeld, keine nützlichen Informationen“, sagt Elena | |
| etwas müde, doch empört ist sie darüber nicht. In der Ukraine hat man sich | |
| mittlerweile daran gewöhnt, dass die Hilfe vonseiten der freiwilligen | |
| Helfer und einfachen Menschen kommt und nicht vom Staat. Kein Grund zur | |
| Aufregung. | |
| Die Familie packte das Nötigste ins Auto und brach auf. An die | |
| Frontscheibe, ans Heck und aufs Dach schrieben sie mit der Hand auf große | |
| Zettel das Wort „Kinder“. Damit man es auch aus der Luft sehen konnte. An | |
| mehreren Checkpoints der Separatisten, die sie passieren mussten, befanden | |
| sich auch Kämpfer aus Tschetschenien, Dagestan und Abchasien. Beim ersten | |
| Checkpoint der ukrainischen Armee atmeten die Dmitriews erleichtert auf. | |
| ## Russisch ist kein Problem | |
| Mascha bleibt mit dem großen fuchsroten Kater im Zimmer. Vielleicht hofft | |
| sie heimlich, dass „pani Uljana“ heute wieder vorbeischaut. Das ist die | |
| Ärztin des Schulheims. Uljana Jarytschkiwskai ist die Familie ist ans Herz | |
| gewachsen, sie versucht, ihren Alltag zu organisieren. Die Dmitriews waren | |
| von der großen Hilfsbereitschaft im Ort überrascht: „Die Bauern haben uns | |
| ständig mit Lebensmitteln versorgt und wollten kein Geld dafür. Auch mit | |
| Russisch hatten wir hier oder in Lemberg niemals Probleme, obwohl uns viele | |
| vor den ’Nationalisten‘ gewarnt haben. So schlimm kann Propaganda sein.“ | |
| Trotzdem macht sich die Ärztin Sorgen um die Zukunft der Familie. „Hier | |
| können sie ja nicht ewig bleiben.“ Was sie in Zukunft erwartet, wissen | |
| weder Oleg noch Lena. Auf jeden Fall steht für sie fest: Es gibt kein | |
| Zurück nach Donezk mehr. | |
| * Die Namen der Familie sind aus Rücksicht auf dort verbliebene Verwandte | |
| geändert | |
| 19 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Juri Durkot | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Donezk | |
| prorussische Separatisten | |
| Donezk | |
| Ukraine | |
| Lwiw | |
| Ukraine | |
| Ukraine | |
| Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Ukraine | |
| Petro Poroschenko | |
| Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ukraine abseits des Bürgerkriegs: Die Flüchtlinge auf dem Land | |
| Flüchtlinge in der Ukraine kommen aus den umkämpften Städten im Osten in | |
| die sicheren Dörfer nahe Kiew. Dort ist es idyllisch. | |
| Ehemaliges KGB-Gefängnis in Lemberg: Die Tür zur Vergangenheit | |
| Iwan Mamtschur ist sich sicher, die KGB-Knastzelle, in der er mehrere | |
| Monate saß, wiederzuerkennen. Ein Besuch im Lemberger „Museum | |
| Lonzki-Gefängnis“. | |
| Krise in der Ukraine: Die Mär von einem „sauberen“ Krieg | |
| In Lemberg glauben viele, dass im Osten nur prorussische Separatisten auf | |
| Häuser und Zivilisten schießen. Ansonsten sind die Kämpfe ziemlich weit | |
| weg. | |
| Donezk in Separatistenhand: Ein Krieg ohne Ehre und Gewissen | |
| Normalität gibt es in Donezk seit Wochen nicht mehr. Autos werden geklaut, | |
| Menschen entführt und mit jeder Explosion verlassen mehr Zivilisten die | |
| Stadt. | |
| Sanktionen gegen Russland: „Primitiver Versuch“ der USA | |
| In der Ukraine-Krise verschärfen USA und EU ihre Sanktionen gegen Russland | |
| deutlich. Moskau warnt vor negativen Folgen für US-Unternehmen. | |
| Ukraine-Krise: Sanktionen gegen Moskau verschärft | |
| Die Kämpfe gehen weiter und die Kontaktgruppe wirft den Separatisten in der | |
| Ukraine fehlende Gesprächsbereitschaft vor. Derweil weitet die EU die | |
| Russland-Sanktionen aus. | |
| Kämpfe in der Ukraine: Poroschenko will aufrüsten | |
| Mehr Waffen, mehr Soldaten. So will die ukrainische Armee gegen die | |
| Separatisten vorgehen. Deren „Volkswehr“ meldet den Abschuss von | |
| Flugzeugen. | |
| Flüchtlinge in der Ukraine: Zuflucht in Pawlograd | |
| Eine 30 Kilometer von Donezk entfernt liegende Industriestadt ist | |
| Anlaufstelle für viele aus dem Donbass. Sie wollen alles vergessen. | |
| Kommentar Ukraine: Landschaft ohne Blüten | |
| Die Ukraine ist jetzt der EU assoziiert – und steht vor dem Kollaps. Es gab | |
| zwar einen Machtwechsel, aber das System ist das gleiche geblieben. | |
| Kämpfe in der Ostukraine: Noch brutaler und unbarmherziger | |
| Nach dem Abschuss einer Militärmaschine droht der ukrainische Präsident mit | |
| Vergeltung. In Kiew herrscht Trauer, im Osten Schadenfreude. |