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# taz.de -- Donezk in Separatistenhand: Ein Krieg ohne Ehre und Gewissen
> Normalität gibt es in Donezk seit Wochen nicht mehr. Autos werden
> geklaut, Menschen entführt und mit jeder Explosion verlassen mehr
> Zivilisten die Stadt.
Bild: Stadt unter Beschuss: prorussische Separatisten Anfang der Woche in Donez…
DONEZK taz | Der aktuelle Anführer der prorussischen Separatisten, Igor
Girkin alias „Strelok“ (Schütze), hat diese Woche eine abendliche
Sperrstunde für Donezk ausgerufen. Er hatte wohl vergessen, dass sein
Vorgänger Denis Puschilin das bereits getan hatte. Diese kleine Episode
beschreibt ganz gut, wie die Bewohner der Stadt seit Wochen leben. Als die
Separatisten aus Slawjansk zu uns vordrangen, rissen sie die Stadt komplett
an sich. Jetzt lebt ganz Donezk nach ihren Regeln. Genauer gesagt: Wir
passen uns den Launen und der Tyrannei der neuen „Herrscher“ an. Und das
ziemlich schnell.
Dabei kann man die Beziehung der Einwohner von Donezk zu den Separatisten
als eher vorsichtig bezeichnen. Man ist nicht sonderlich darum bemüht, mit
den Bewaffneten in Kontakt zu treten. Und auch die Separatisten schenken
der Bevölkerung kaum Beachtung. Wenn die Menschen einen Kontrollposten
passieren und eine Schar von Männern in Tarnanzügen erblicken, versuchen
sie, sie zu ignorieren. Nur Anhänger separatistischer Ideen sprechen die
mit Maschinengewehren bewaffneten Kämpfer hin und wieder an.
In der ganzen Stadt stehen Zelte, die von den Anhängern der „Volksrepublik“
aufgestellt worden sind. Dort kann man sich mit Agitationsschriften
versorgen und für die „notleidenden“ Separatisten spenden. Aber es bilden
sich keine Schlangen vor den Zelten in den Farben der russischen Trikolore.
Dort sitzen die Agitatoren mit fahlen und gelangweilten Gesichtern und
blättern lustlos in ihren Listen herum.
## Tägliche Entführungen
Donezk lebt in Parallelwelten: Niemand unter uns Einwohnern wundert sich
über Panzer auf den Straßen, bewaffnete Kämpfer an jeder Ecke und
nächtliche Explosionen. Allein die enorm erhöhte Kriminalitätsrate
überrascht uns: Pro Woche werden 50 bis 70 Autos gestohlen, also
durchschnittlich zehn pro Tag. Die Polizei sagt, die meisten Diebstähle
würden auf den Straßen begangen. Bewaffnete halten einfach Autos an und
setzen die Fahrer auf die Straße. Ich weiß nicht, wie ich die Ausmaße der
Kriminalität beschreiben kann. Man kann sich nur eine Vorstellung davon
machen, wenn man so etwas mit eigenen Augen gesehen hat.
Jeden Tag werden Menschen als vermisst gemeldet. Nicht nur ukrainische
Patrioten werden gekidnappt, die Separatisten machen nicht mal vor
Priestern halt. Ab und zu wird jemand nach langen Verhandlungen und der
Zahlung eines hohen Lösegeldes wieder freigelassen. Die Freigelassenen
erzählen nie etwas über ihre Gefangenschaft, sondern verlassen einfach
still und heimlich die Region.
Vergangenen Mittwoch wurde der Priester Tichon nach einigen Wochen
Gefangenschaft freigelassen. „Ehre sei dir, unser Gott, Ehre sei dir!“,
rief er nach seiner Befreiung. Und dann: „Um meine Gesundheit steht es
schlecht. Fragen dazu, wer mir das angetan hat, wann, wo und warum, werde
ich nicht beantworten. Davon hängt das Leben Dritter ab.“ Solche Gefangenen
gibt es zu Hunderten. Und wir können nichts tun.
Ohnmacht und Angst – das sind die Gefühle, die unter den Bürgern derzeit am
weitesten verbreitet sind. Die Stadt entvölkert sich mit jeder Explosion
und jeder Gewehrsalve ein wenig mehr. „In den vergangenen Wochen gingen
fast alle meine Touren zum Bahnhof“, sagt der Taxifahrer Igor. „Die
Menschen haben alles Mögliche dabei: riesengroße Taschen, Hunde, Großmütter
und Kinder. Sie wollen einfach nur weg, egal wohin.“
## Wahrhaftiger Krieg
Unter solchen Bedingungen fällt die Entscheidung, das gewohnte Leben
aufzugeben, leicht. Zumal es Letzteres niemals wieder geben wird. „Auf
meiner Station arbeiten vier Pfleger, die alle für die Volksrepublik Donezk
sind. Sie sagen, dass die Aufständischen die ukrainischen Soldaten zu Recht
töten. Und dass wir in Russland leben sollten“, erzählt die
Krankenschwester Alla. „Ich hingegen denke, dass jetzt wegen ihrer
’Referenden‘ und dieser Märchen über die Faschisten Menschen sterben.
Unsere Soldaten wie unbeteiligte Bürger. Wenn das alles vorbei ist, die
Nationalgarde uns befreit und bewiesen haben wird, dass die Verteidiger der
’Volksrepublik‘ Terroristen sind – können uns diese Pfleger dann noch in
die Augen schauen?“
Die Separatisten haben Krieg nach Donezk gebracht, einen wahrhaftigen Krieg
ohne Ehre und Gewissen. Geschäfte schließen, nicht ein einziges
Einkaufszentrum ist offen, die Gerichte arbeiten nicht, die
Verwaltungsgebäude sind besetzt. Und die Polizei hat Angst, ihre Uniform zu
tragen. Die Verkehrspolizei hat die Arbeit sogar ganz eingestellt, nachdem
sie mehrmals überfallen worden war. Seitdem fährt jeder, wie er will.
Besonders die Kämpfer in den gestohlenen Autos. Doch was macht das schon,
passiert ein Unfall, werden die Rechte der wehrlosen Bürger ohnehin von
niemandem geschützt.
Man sieht eine Panzerkolonne durch die Stadt fahren. Was tun? „Rufen Sie
die Hotline an!“ Man sieht mit den eigenen Augen, wie ein Mensch entführt
wird. Was tun? „Rufen Sie die Hotline an!“ Ein Wohnhaus wird beschossen.
„Rufen Sie die Hotline an!“
## Geschützposten in Wohngebieten
Es sieht es so aus, als ob die Staatsmacht die Situation nicht mehr unter
Kontrolle hat. Aber wie könnte sie das auch in Zeiten wie diesen, wo da
facto Krieg herrscht, de jure aber nicht? „Meine Kollegen haben erzählt,
dass an einem Sonntag verletzte ukrainische Soldaten auf unsere Station
gebracht wurden“, erzählt eine andere Krankenschwester. „Ich wollte an
diesem Tag ein wenig früher zur Arbeit gehen und ihnen Nahrungsmittel
bringen. Doch vor Beginn meiner Schicht tauchten Kämpfer der
’Volksrepublik‘ auf und nahmen die Verletzten mit. Als die Angestellten
versuchte, sich dem zu widersetzen, wurden sie fast dafür erschossen. Wir
wissen nicht, was mit den Soldaten passiert ist. Und an wen wir uns in
dieser Angelegenheit wenden sollen, wissen wir auch nicht.“
Vergangenen Donnerstag wurde offiziell bekannt gegeben, dass die
Separatisten neue Geschützposten errichten wollen. In Wohngebieten. Für die
Einwohner bedeutet das, dass die Kämpfer auf die Armee schießen und
entsprechende Antworten provozieren werden. Wie in Slawjansk. Ein
Geschützposten befindet sich vielleicht 300 Meter von meinem Wohnhaus
entfernt. Alle Nachbarn wissen, dass sich dort auch Granatwerfer befinden.
Im Großen und Ganzen verstehen wir, dass jeder von uns ein menschliches
Schutzschild für diejenigen ist, die die Regierung der Ukraine als
Terroristen bezeichnen. Die Arithmetik ist einfach: Entweder schießt die
Armee nicht – und verliert weitere Soldaten. Oder sie feuert zurück, und
dann werden wir die Opfer sein. Es scheint, als sei man in Donezk darauf
schon vorbereitet. Man ist zu allem bereit …
Die Journalistin Valerija Dubova ist bisher in Donezk geblieben – aus
familiären Gründen und weil sie der Berichterstattung russischer Medien
etwas entgegensetzen will. Ihren Bericht haben Ljuba Naminova und Barbara
Oertel übersetzt.
22 Jul 2014
## AUTOREN
Valerija Dubova
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Ukraine
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