Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kinderbetreuung und Erziehernöte: Das Aufbewahrungssystem
> Seit einem Jahr gilt der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für
> Einjährige. Es gibt mehr Plätze, aber zu wenig Erzieher und
> Erzieherinnen.
Bild: In einer Hamburger Kita: In der Hansestadt mangelt es besonders an Erzieh…
BERLIN/ HAMBURG taz | Es ist der Lärm, immer noch, auch nach so vielen
Jahren im Beruf, der Ina Kleuckling zu schaffen macht. Und es ist der Lärm,
der Besucher als Erstes empfängt, wenn sie Ina Kleuckling an ihrem
Arbeitsplatz in einer großen Hamburger Kita besuchen wollen. Geschrei und
Lachen vom großen Spielplatzgelände draußen; hinter der Tür hört man ein
kleines Kind weinen.
Draußen ist es heiß an diesem Sommernachmittag, doch im großen
Aufenthaltsraum herrschen angenehme Temperaturen. Die gelben Vorhänge vor
den Fenstern sind zugezogen, das Mobiliar – Regale, Stühle, Schränke, ein
Spielteppich – wirkt alt und abgegriffen. Ina Kleuckling, 56, kurze, rote
Haare, trägt ein blaues Top und gelbe Plastik-Clogs an den Füßen. Die
Erzieherin verteilt Apfelschnitze und Bananenstücke an eine Gruppe kleiner
Kinder, die um einen niedrigen Tisch sitzen. Gleichzeitig versucht sie
einen Einjährigen zu beruhigen, der schluchzend nach Apfelschnitzen
verlangt. „Marcel*, Mäuschen, es ist besser, wenn du eine Banane isst und
keinen Apfel“, sagt Kleuckling und schiebt ihm ein Stückchen von dem Obst
hin, „du hattest heute ein bisschen Durchfall.“ Das Kind beruhigt sich,
lutscht schließlich zufrieden an seinem Obst, während Kleuckling schnell
zur Anrichte läuft und Wasser holt, das sie in Plastikbecher und
Nuckelflaschen füllt. Dabei lässt sie die Kinder nicht aus den Augen, denn
heute ist die Erzieherin allein. Acht Stunden allein mit neun Kleinkindern.
Jetzt in der Urlaubszeit kommt das öfter vor.
„Heute geht es ja, ich hatte auch schon Zeiten, wo ich drei Wochen lang
alleine mit fünfzehn Kindern war“, sagt sie und beginnt Hände und Gesichter
abzuwischen, den Kindern beim Aufstehen zu helfen, Stühle zurechtzurücken.
## Studium zu DDR-Zeiten
Ina Kleuckling arbeitet seit 36 Jahren als Erzieherin. Angefangen hat sie
in der DDR; dort musste man ein Fachschulstudium absolvieren, wollte man
den Beruf ergreifen. Nach der Wende ging sie Anfang der neunziger Jahre
nach Hamburg, wo dringend ErzieherInnen gesucht wurden. Kleuckling macht
die Arbeit mit den Kindern immer noch Spaß. Aber die Arbeitsbelastung hat
den letzten Jahren stark zugenommen. „Man stößt immer mehr an seine
Grenzen“, sagt sie. Sie versammelt die Kinder auf dem Teppich, um mit ihnen
ein paar Lieder zu singen. Immer wieder muss sie den einjährigen Tim*
einfangen, der lieber mit dem Lauflernwagen durch den Raum marschiert und
dabei an Schränke und Stühle stößt.
In der DDR betreute Kleuckling mit zwei anderen Kolleginnen 18
Krippenkinder. Viel daran geändert hat sich nicht. Hier in Hamburg sind sie
zu zweit, die 15 unter Dreijährige betreuen. 7,5 Kinder pro Erzieherin.
Wissenschaftler empfehlen einen Schlüssel von 1:3.
Fünfzehn ein- bis dreijährige Kinder, die nach Aufmerksamkeit verlangen,
die hochgenommen und getröstet werden wollen, die Körperkontakt und
Ansprache wollen. Wie schafft man das zu zweit?
„Na ja, der Schweiß läuft dir oft und auch die Angst, dass mal etwas
passiert, dass man etwas übersieht, schwingt jeden Tag mit. Aber ich
versuche, immer ruhig zu bleiben und die Kinder so oft wie möglich in den
Arm zu nehmen. Leider gibt es Tage, an denen wir ihnen das nicht geben
können.“
## Viele kriegen Burn-out
Ina Kleucklings Arbeitsalltag ist keine Besonderheit, wie eine jüngst
erschienene Studie zeigt. Überall in Deutschland fehlen ErzieherInnen,
120.000 müsste man einstellen, um einen angemessenen Personalschlüssel zu
erreichen. Neben den ostdeutschen Ländern ist die Situation in Hamburg
besonders schlimm.
„Wir haben reihenweise Kolleginnen und Kollegen, die auf dem Zahnfleisch
gehen, die einen Burn-out oder andere Krankheiten kriegen“, bestätigt Jens
Kastner, Kita-Fachsprecher der GEW-Hamburg. „Es ist wirklich dramatisch
hier. Und seit dem Rechtsanspruch im letzten Jahr hat sich die Situation
ganz klar noch einmal verschlechtert: Quantität vor Qualität. Das geht auf
Kosten der Erzieher und Erzieherinnen.“
Trotz der angespannten Situation gibt es kaum ErzieherInnen, die offen
darüber sprechen wollen. Ina Kleuckling ist da eine Ausnahme. Sie findet,
dass man ehrlich über die Zustände reden muss, damit sich was ändert. Auch
Eltern, die von massiven Bauchschmerzen berichten, wenn sie ihre Kinder
morgens in eine Gruppe mit viel zu wenigen ErzieherInnen geben müssen,
wollen ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Es ist ein bisschen
so, als würden sich alle etwas schämen, dass sie in einem System mitmachen,
das im besten Fall ein Flickenteppich ist: geduldet von der Politik,
zusammengehalten durch die jahrelange, freiwillige Ausbeutung von
ErzieherInnen und mit ermöglicht durch das Wegsehen der Eltern, weil die
froh sind, überhaupt einen Kitaplatz zu haben.
## Schlechtes Bauchgefühl
Berlin, Prenzlauer Berg. In einem der zahlreichen Kindercafés am
Helmholtzplatz sitzt Claudia Müller* und schaut ihrem zweijährigen Sohn
dabei zu, wie er in ein mit bunten Bällen gefülltes Plastikbecken springt,
mit nicht nachlassender Begeisterung. Draußen vor dem Eingang parken teure
Kinderwagen, neben dem Café wirbt ein Studio für Schwangerschafts-Yoga.
Auch die schlanke Mitdreißigerin mit den langen Haaren und der Hornbrille
will ihren richtigen Namen nicht nennen, weil sie sich schämt, so sagt sie.
Dafür schämt, dass sie ihren Sohn im letzten Sommer zunächst in einer Kita
unterbrachte, bei der sie von Anfang an ein schlechtes Gefühl hatte.
„Eigentlich haben schon am ersten Tag alle Alarmglocken geläutet.“ Eine
Gruppe mit 12 Kindern, alle zwischen 8 Monaten und zwei Jahren alt, mit
zwei Erzieherinnen und einer Praktikantin. „Viel zu wenig für so viele
kleine Kinder!“ Jede Woche sei ein weiteres Eingewöhnungskind dazugekommen,
weil die Gruppe auf 16 Kinder aufgestockt werden sollte.
Claudia Müller hat lange nach einem Kitaplatz gesucht. 14 Monate war die
Architektin zu Hause geblieben und wollte nun wieder einen Job suchen. „Ich
war so froh, als wir die Zusage für den Platz hatten. Wir hatten uns bei so
vielen Kitas beworben. Es war einfach der perfekte Zeitpunkt.“
## Kündigung nach einem Monat
Gleich am ersten Tag war die Erzieherin krank, die Müllers Sohn eingewöhnen
sollte. Stattdessen sprang die Praktikantin ein, die sich eigentlich um
drei andere weinende Kinder kümmern musste. Und auch an den nächsten Tagen
wurde es nicht besser. „Ich fand es einfach schrecklich, meinen Sohn
weinend inmitten so vieler anderer weinender Kinder da zu lassen.“
Claudia Müller probierte es einen knappen Monat mit der Eingewöhnung, dann
kündigte sie den Platz. Ein paar Wochen später bekam sie mit viel Glück
einen Platz in einer anderen Einrichtung. Dort ist der Personalschlüssel
auch nicht ideal, aber diesmal klappte die Eingewöhnung besser.
Hamburg, 16 Uhr. Ina Kleuckling hat jetzt gleich Feierabend. Sie hat heute
Dutzende Windeln gewechselt, die Kinder auf der Wiese spielen lassen, Essen
gefüttert, Münder und Hände von Suppenresten, Kekskrümeln und Bananenbrei
befreit, Haare gekämmt, Hosen und T-Shirts an- und wieder ausgezogen. Sie
hat den ersten Worten eines Kindes zugehört, sie hat getröstet, ermuntert,
erklärt, gesungen, gelobt. Aber vor allen Dingen hat sie sich
zusammengenommen, obwohl sie den ganzen Tag allein war, hat die Kinder
ihren Stress und ihre Müdigkeit nicht spüren lassen. Zumindest hofft sie
das.
## Übergabe an den Spätdienst
Drei Kinder sind immer noch nicht abgeholt, Kleuckling übergibt sie dem
Spätdienst. Ihre Schicht endet um 16.30 Uhr, die Kita hat bis 18 Uhr
geöffnet. Dann betreuen andere KollegInnen die Krippenkinder weiter.
Kleuckling geht in den leeren Gruppenraum zurück und räumt das Spielzeug
weg.
„Klar merkt man, dass die Kinder viel weinen, wenn es bei uns stressig ist.
Und natürlich vergreift man sich auch schon mal im Ton. Das ist dann immer
besonders schlimm, nicht so sehr für die Kinder, sondern vor allem für
einen selber. Man will das natürlich nicht. Meine Kollegin und ich stoßen
uns dann immer gegenseitig an.“
Als Letztes prüft Kleuckling, ob im Bad für den nächsten Tag genügend
Windeln da sind, dann macht sie sich auf den Weg zur S-Bahn. Eineinhalb
Stunden pendelt sie jeden Tag zwischen Geesthacht und Hamburg, weil hier
die Wohnungen für sie und ihren Mann, einen Busfahrer, zu teuer sind. In
der S-Bahn und später im Bus versucht sie, sich möglichst weit weg von
Kindergruppen zu setzen. Auch im Urlaub braucht sie absolute Ruhe.
## Hingucken, nachfragen
Die gelben Clogs hat Kleuckling in der Kita gelassen, sich eine frische
Bluse angezogen. Ihre blauen, wasserhellen Augen schauen zwar müde unter
der Brille, aber wie sie da jetzt mit schnellen, beschwingten Schritten die
Straße in dem nördlichen Hamburger Vorort entlangläuft, könnte sie auch
eine Touristin sein oder eine Hausfrau, die ein paar Einkäufe in der Stadt
erledigt hat und jetzt wieder nach Hause fährt.
Auf die Frage, was sie sich denn wünschen würde für die Zukunft, sagt sie:
„Ich möchte eigentlich nur meinen Beruf ausüben, also Kinder in ihren
ersten Lebensjahren betreuen und nicht nur satt und sauber machen. Aber ich
würde mir auch wünschen, dass Eltern besser hingucken, kritisch nachfragen,
wenn sie sehen, dass man ständig alleine ist.“
* Namen geändert
7 Aug 2014
## AUTOREN
Sandra Löhr
## TAGS
Kita-Ausbau
Erziehermangel
Kinderbetreuung
Kita
Kinderbetreuung
Betreuungsgeld
## ARTIKEL ZUM THEMA
Erschöpfte ErzieherInnen: Brandbrief für die Kleinsten
Rund 600 Hamburger Kita-Leitungen schreiben an Bürgermeister Olaf Scholz:
Personal sei dem Burnout nah.
Kostenlose Kitas: Wohltat mit Schattenseiten
Ab 1. August ist die fünfstündige Grundbetreuung in Hamburger Kitas
kostenfrei. Für die Eltern ist das toll, aber den Krippen fehlt Personal.
Keine Hamburger Verhältnisse: Elternwille zählt nicht
Mehr Verantwortung, weniger Behördenvorgaben wollen die freien Bremer
Träger in der Kindertagesbetreuung. Rot-Grün lehnt ab – mit fadenscheinigen
Argumenten
Kita-Kontrollen: „So geht Kita nicht“
Mittelkürzungen für Kitas sind nicht vermittelbar, sagt der Verband Kinder-
und Schülerläden.
Betreuungsgeld für Eltern: Im Westen zu Hause
Das Betreuungsgeld beziehen Eltern vor allem in Bayern, Baden-Württemberg
und NRW. Kein Wunder: Dort mangelt es seit Jahren an Kita-Plätzen.
Fehlende Fachkräfte: Hausgemachte Erziehernot
Kita Bremen klagt vehement über Fachkräftemangel – dabei könnte sich der
Träger von der evangelischen Kirche abgucken, wie man gutes Personal
gewinnt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.