| # taz.de -- Archäologische Sensationen: Die Dicke von Schelklingen | |
| > Die ältesten Kunstwerke der Menschheit wurden auf der Schwäbischen Alb | |
| > ausgegraben. Höhlen, ein Archäopark und das Museum zeugen davon. | |
| Bild: Die Venus vom Hohle Fels wird auch „Dicke von Schelklingen“ genannt. … | |
| Sie stehen genau dort, wo die Venus vom Hohle Fels gefunden wurde", sagt | |
| Professor Nicholas Conard, Inhaber des Lehrstuhls für Ältere Vorgeschichte | |
| in Tübingen. Ich schaue auf den Berg weißer Sandsäcke, auf dem ich in der 9 | |
| Grad kalten ausgeleuchteten Höhle stehe, bei 30 Grad Außentemperatur. Die | |
| Säcke stabilisieren und stützen die Höhlenwände nach Grabungen. Professor | |
| Conard und seine Studenten graben auch in diesem Sommer sechs Wochen am | |
| Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb. Sie graben tief in die Vergangenheit. | |
| Schicht für Schicht suchen sie nach Zeugnissen von damals. | |
| Damals, vor rund 40.000 Jahren als der Neandertaler ausstarb und der | |
| moderne Mensch, der Homo sapiens, aus Afrika kommend, Mammuts, Höhlenlöwen, | |
| Höhlenbären und Säbelzahntiger jagte. Draußen an dem Bächlein der Ach im | |
| Urstromtal der Donau wird die in blaue Eimer abgefüllte ausgebuddelte Erde | |
| geschlämmt, das heißt gewaschen, nach Herkunftstiefe abgepackt, später dann | |
| im Labor akribisch unter die Lupe genommen. | |
| Der Hohle Fels bei Schelklingen besteht aus einer großen Felshalle. Wann | |
| immer in den letzten Jahren irgendwelche archäologischen | |
| Sensationsmeldungen durch die Presse gingen, stammten sie entweder vom | |
| Hohle Fels und dem Geißenklösterle aus dem Blaubeurer Urdonautal oder aus | |
| den Höhlen des etwas nördlicheren Lonetals. | |
| "Es sind Sensationsfunde. Hier auf der Schwäbischen Alb wurden die ältesten | |
| Kunstwerke der Menschheit gefunden", schwärmt Professor Conard. Neben der | |
| "Venus vom Hohle Fels", die Conard 2008 in der Karsthöhle bei Schelklingen | |
| fand, gehört dazu das 3,7 Zentimeter kleine Mammut aus Elfenbein, das | |
| Conards Crew 2007 in der Vogelherdhöhle im Lonetal ausgrub. "Die Funde von | |
| der Schwäbischen Alb sind ein Aushängeschild für Deutschland", sagt der | |
| Professor. Die Höhlen und ihre Funde sollen, wenn auch die Gemeinden sich | |
| einig sind und dezente Toilettenhäuschen finanzieren, Weltkulturerbe | |
| werden. | |
| Verwitterte Steinkegel ragen aus Laubwäldern empor, schroffe Kalkfelsen | |
| stehen unerwartet in der Landschaft. Darüber wölbt sich ein blauer Himmel | |
| mit Schäfchenwolken. Mag die Gegend um Schelkling und Blaubeuren auch | |
| reizvoll grün und ländlich schön sein, es kostet Mühe, sich in der | |
| saturierten, wurstsalat- und spätzleverwöhnten schwäbischen Provinz von | |
| heute herumziehende Mammutjäger von damals vorzustellen. Denn außer den | |
| unspektakulären Höhlen, kalten Löchern im Kalkstein, bekommt der Besucher | |
| nicht viel zu sehen auf den Spuren der Steinzeit. Um sich begeistern zu | |
| können, braucht er Fantasie, aber vor allem Wissen, an dem sie sich | |
| entzünden kann. | |
| ## Der Mama-Raum im Museum Blaubeuren | |
| Wir holen uns etwas davon im Urgeschichtlichen Museum im acht Kilometer | |
| entfernten Blaubeuren. Dort steht sie in ausladender Pracht. die Venus vom | |
| Hohle Fels, auch die "Dicke von Schelklingen" genannt. Sie wurde aus einem | |
| Mammutstoßzahn mit Feuerstein geschnitzt. Ihre Brüste sind üppig und ragen | |
| weit nach vorn. Das Schamdreieck mit der offenen Vulva ist deutlich zu | |
| erkennen. Der Bauch ist rund. "Sie signalisiert Weiblichkeit und | |
| Sexualität", sagt Johannes Wiedmann, Dozent am Museum. Eine Mama: prall, | |
| üppig, voluminös, nährend. Mama heißt auch der Raum, in dem sie dezent | |
| beleuchtet steht. | |
| Wiedmann führt uns durch das informative, frisch renovierte Museum. In den | |
| Vitrinen liegen kleine Elfenbeinfiguren. Pferde, Mammuts, Löwenköpfe. Funde | |
| aus den in der Nähe liegenden Höhlen, meist Tiernachbildungen, aber auch | |
| die berühmten Flöten. "Es sind die weltweit ältesten nachgewiesenen | |
| Musikinstrumente: Flöten aus Schwanenflügelknochen, aus Gänsegeierknochen | |
| und aus Mammutelfenbein. Keines der Instrumente ist vollständig erhalten", | |
| sagt Wiedmann. Doch ihr Klang kann per Knopfdruck abgerufen werden, er | |
| wurde rekonstruiert. Steinzeitmusik, sinnlich erfahrbar! | |
| Im Museum von Ulm, rund 20 Kilometer nördlich von Blaubeuren, steht ein | |
| anderer Sensationsfund von der Schwäbischen Alb: der Löwenmensch. Eine | |
| aufrecht stehende Gestalt mit tierischen und menschlichen Merkmalen. | |
| Radiokarbondatierungen an Tierknochen aus der Umgebung der Fundstelle | |
| konnten das Alter der Figur auf rund 32.000 Jahre bestimmen "Die Leute sind | |
| immer enttäuscht, wenn sie davorstehen. Sie erwarten eine viel größere | |
| Figur und nicht diese filigrane Schnitzerei aus Elfenbein", sagt Kurt | |
| Wehrberger, Archäologe am Ulmer Museum. "Dabei ist der Löwenmensch mit | |
| seinen 31,1 Zentimetern von der Größe her der absolute Ausreißer in der | |
| Eiszeitkunst. Die anderen gefundenen Figuren sind wesentlich kleiner." | |
| ## Der Löwenmensch wurde jahrzentelang rekonstruiert | |
| Die menschliche Figur mit Löwenkopf, dieses Mischwesen, ist eine | |
| sensationelle Entdeckung, ein magischer Fund. Die Figur sei möglicherweise | |
| ein Hinweis auf schamanistische Praktiken bei den Jägern der Eiszeit. | |
| "Vielleicht handelt es sich um eine mythologische Gestalt, die in dieser | |
| Region verehrt wurde." | |
| Über Jahrzehnte hinweg wurde der Löwenmensch aus über 200 Einzelteilen | |
| rekonstruiert. Gefunden wurde er ursprünglich am 25. August 1939 bei den | |
| Ausgrabungen von Otto Völzing und Robert Wetzel im Hohlenstein-Stadel im | |
| Lonetal. Seine wirkliche Bedeutung wurde jedoch erst 30 Jahre später im | |
| Ulmer Museum entdeckt. Nach dem Auffinden und Anpassen weiterer Fragmente | |
| vor allem des Kopfes und des zweiten Armes konnte die Statuette 1988 | |
| restauriert werden. So steht sie nun hier. Nur das Geschlecht des | |
| Löwenmenschen sei immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen. "Das | |
| sind auch ideologische Auseinandersetzungen über die Stellung der Frau in | |
| altsteinzeitlichen Gesellschaften", weiß Wehrberger. | |
| Ob Männlein, Weiblein, Transvestit, sicher ist: "Die Statuette vom | |
| Hohlenstein-Stadel ist die mit Abstand größte und spektakulärste Figur | |
| dieses Ensembles ältester beweglicher Kunst der Menschheit aus dem Zeitraum | |
| vor 30.000 bis 40. 000 Jahren", sagt Wehrberger. | |
| ## Wie erlegt man ein Mammut? | |
| Der Löwenmensch regt die Fantasie an. Auf der Fahrt ins Lonetal machen wir | |
| uns so unsere Gedanken: Stellten die JägerInnen der Eissteinzeit bereits | |
| Überlegungen zum Himmel über ihnen an? War ihnen langweilig, dass sie | |
| niedliche Figuren schnitzten? Und wie passten den Nazis diese einmaligen | |
| Funde ins Konzept ihres germanischen Herrenmenschentums? | |
| Der Archäopark Vogelherd versucht, einige Antworten zum Aurignacien, der | |
| Kultur der Eissteinzeit, zu geben: "Wie erlegt man ein Mammut? Was konnte | |
| man aus einem Tier gewinnen? Wie funktioniert eine Speerschleuder? Und | |
| woraus sind die ältesten Kunstwerke der Menschheit gemacht? Es gibt fünf | |
| Stationen. Die Besucher können mit Pferdeknochen Feuer machen, Zelte mit | |
| Tierhäuten beziehen, mit Wurfspeeren auf große Pappmammuts werfen. Sie | |
| können Tierspuren lesen - und anhand von Abdrücken und Kot raten, welche | |
| Tiere im Lonetal gelebt haben. 30 Guides wurden vom Institut für | |
| Frühgeschichte an der Uni Tübingen ausgebildet. Sie begleiten die Besucher, | |
| erklären die Geschichte und erzählen Geschichten aus der Steinzeit. | |
| Im Archäo-Shop mit Restaurant gibt es Rossfeuersteak à la Aurignacien - | |
| Pferdesteak nach Steinzeitart mit Wacholder und Kräutern. "Der Park wird | |
| gut angenommen", sagt Patricia Friderich, Leiterin des Archäoparks | |
| Vogelherd. Schon im ersten Jahr der Eröffnung waren 50.000 Besucher hier." | |
| Steinzeit zum Anfassen und Essen? "Ja, aber man braucht auch viel | |
| Fingerspitzengefühl, um das Konzept nicht zu überfrachten und lebendig zu | |
| halten", sagt die junge Chefin des Parks bei einem Auric Royal, Prosecco | |
| mit Waldbeerensirup. | |
| Ein Mammut aus Elfenbein ist der Star. Es steht nun im Ausstellungsraum des | |
| Parks und stammt von hier, aus der Vogelherdhöhle. Diese liegt strategisch | |
| ideal auf einem Sporn, 20 Höhenmeter oberhalb der Lone im | |
| Archäoparkgelände. Sie eröffnet einen perfekten 180-Grad-Blick über den | |
| Talverlauf. | |
| ## Die Schätze, ein Weltkulturerbe | |
| Nur etwa drei Kilometer von hier entfernt liegt das Hohenstein-Stadel, wo | |
| der Löwenmensch gefunden wurde. Es ist eine idyllische Wanderung dorthin | |
| auf dem gut ausgeschilderten Neandertalerweg. Hermann Häußler ist | |
| passionierter Wanderführer auf den Spuren der Steinzeit. Er begleitet uns. | |
| Seit seiner Jugend faszinieren ihn die Höhlen im Lonetal. Er ist darin | |
| herumgeklettert, seine Fantasie wurde dort entflammt. Die Steinzeit, das | |
| merken seine Zuhörer sofort, ist seine Leidenschaft. | |
| Er kann, wie unsere anderen Gesprächspartner auch, nicht verstehen, dass | |
| selbst Menschen aus der Umgebung noch nie etwas von den Schätzen, der | |
| kulturellen Bedeutung der Funde hier auf der Schwäbischen Alb gehört haben. | |
| "Sicher sind die Höhlenmalereien in Südfrankreich oder Spanien zunächst | |
| spektakulärer, leichter konsumierbar, aber die Dicke von Schelklingen oder | |
| der Löwenmensch, das ist was ganz Spezielles! Die erste Kunst", sagt er. | |
| Er zieht eine Nachbildung der Dicken, die man mit einer Hand umfassen kann, | |
| aus dem Rucksack. Die Öse an der Figur weist drauf hin, dass sie als | |
| Talisman um den Hals getragen wurde. Für den heutigen Geschmack etwas | |
| unförmig, zu Fellkleid aber möglicherweise schick. | |
| 23 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Edith Kresta | |
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