| # taz.de -- Datenbanken für Archäologen: Das Ende der Seeräuberzeit | |
| > Immer mehr Forscher graben nicht in der Erde, sondern in digitalen | |
| > Archiven. So haben sie weltweit Zugriff auf ihre Forschungsobjekte. | |
| Bild: Wer Venusfiguren wie diese aus Tübingen sehen will oder … | |
| Noch vor zwanzig Jahren schlummerten in Museen, archäologischen Instituten | |
| und an den Universitäten weltweit Grabungstagebücher, Fundstücke und Fotos, | |
| als hätten sie Seeräuber in Truhen auf einsamen Inseln deponiert, verstreut | |
| im Ozean des Wissens, katalogisiert nach weit voneinander abweichenden | |
| Begriffssystemen. Doch Anfang der 90er Jahre entstanden die ersten | |
| elektronischen Bildarchive. Heute gehen die Altertumswissenschaften mit | |
| Siebenmeilenstiefeln online. | |
| In Deutschland existieren jetzt schon viele digitale archäologische | |
| Archive. In ihnen kann man gezielt nach geologischen Besonderheiten von | |
| Fundorten, nach bestimmten Begriffen in archivierten Texten, nach Bildern | |
| oder ihren Elementen suchen. Besonders populär ist hierzulande die frei | |
| zugängliche Objektdatenbank [1][Arachne], benannt nach einer Weberin aus | |
| der antiken Sagenwelt. | |
| Die moderne Arachne ist Objektdatenbank des Deutschen Archäologischen | |
| Instituts (DAI) und des Archäologischen Instituts an der Universität zu | |
| Köln und besteht in ihrer heutigen Form seit 2004. Sie erfasst Gegenstände | |
| in ganz Deutschland und in DAI-Auslandsfilialen und bietet mehr als 500.000 | |
| Scans von etwa 250.000 Objekten. Das Arachne-Team bemüht sich besonders, | |
| Interoperabilität zwischen unterschiedlichen Dokumentationssystemen zu | |
| schaffen. | |
| Dies kommt den in Bachelor- und Master-Studiengänge gezwängten | |
| JungwissenschaftlerInnen von heute entgegen, die nicht mehr so viel reisen | |
| können wie ihre VorgängerInnen. Aber die neuen Datenbanken sind mehr als | |
| ein Ersatz für die Originale: Sie lassen auch Fragen aufkommen, welche | |
| vorher niemand stellen konnte. | |
| ## Bürostuhl statt Griechenland | |
| Einer davon hat Martina Trognitz, 28, ihre Doktorarbeit gewidmet. Als | |
| wissenschaftliche Hilfskraft jobbt sie am Referat für | |
| Informationstechnologie des DAI in Berlin. Die junge Frau hat | |
| Computerlinguistik und klassische Archäologie studiert und lernte die | |
| Feldforschung unter freiem Himmel kennen, in Österreich, Deutschland, | |
| Kambodscha und Saudi-Arabien. Doch sie braucht nicht einmal ihren Bürostuhl | |
| umzudrehen, wenn sie sich nach Feierabend der eigenen Dissertation | |
| zuwendet, ihr Thema: „Computerbasierte Analyse mehrseitiger minoischer und | |
| mykenischer Siegel“. | |
| Ihre schmucken kleinen Objekte wurden zwischen etwa 3.000 und circa 1.100 | |
| v. Chr. im ägäischen Raum produziert. Da gibt es doppelseitige, dreiseitige | |
| und vierseitige Siegel. Letztere erinnern zum Beispiel an Würfel. Nur dass | |
| auf jeder ihrer Flächen statt einer Zahl ein Bild steht: mal eine Ziege, | |
| mal eine Pflanze und mal eine Amphore. | |
| Martina Trognitz sucht nun auf zwei- bis vierseitigen Siegeln so etwas wie | |
| einen Da-Vinci-Code: Gibt es bestimmte Gesetzmäßigkeiten, nach denen ihre | |
| Motive miteinander kombiniert wurden und aufeinander folgen, | |
| Regelmäßigkeiten in der Musterzusammensetzung? Wird da ein bestimmtes Tier | |
| eher mit einer Pflanze kombiniert oder eher mit einem Gefäß? Auf einer | |
| angrenzenden Fläche oder auf der gegenüberliegenden? Teilen manche Folgen | |
| gar eine Botschaft mit? | |
| Wer dieser Arbeit vor 60 Jahren nachgegangen wäre, der hätte viel reisen | |
| müssen, vor griechischen Bürokraten um Erlaubnisscheine buckeln und sich an | |
| menschlichen Zerberussen in kleinen Provinzmuseen vorbeischleichen. | |
| Ab 1958 wurde es schon leichter. Denn damals hat man Abdrücke all dieser | |
| Siegel und Zeichnungen im „Corpus der minoischen und mykenischen Siegel | |
| (CMS)“ zusammengetragen, inzwischen versammelt unter dem Dach des Instituts | |
| für klassische Archäologie der Universität Heidelberg. Dort finden sich an | |
| die tausend mehrseitige Siegel mit über dreitausend Bildern darauf. Sie | |
| alle versuchsweise immer wieder neu zu einander in Beziehung zu setzen, | |
| wäre auch nach Entstehung des CMS noch eine Lebensaufgabe gewesen. | |
| Martina Trognitz hofft, es in drei Jahren zu schaffen. Ihr stehen nämlich | |
| heute für die Analyse verschiedene digitale archäologische Datenbanken zur | |
| Verfügung, unter anderem die digitale Objekt-Datenbank Arachne. Einzelne | |
| Merkmale der Stempelbilder sind in Arachne verbal aufgeschlüsselt. Zum | |
| Beispiel die Lebewesen – welche kommen wo auf dem Bild vor, bewegen sie | |
| sich oder stehen sie, wohin blicken sie. | |
| Auch Materialeigenschaften sind festgehalten. War der Stein weich oder | |
| hart? Ein härterer wäre schwerer zu schneiden gewesen und das Siegel daher | |
| teurer. Die Mustererkennungsalgorithmen liefern im Ergebnis verschiedene | |
| Gruppen. | |
| Damit Martina Trognitz heute mit diesen Begriffen jonglieren kann, haben | |
| gestandene WissenschaftlerInnen das figürliche Material sechzig Jahre lang | |
| in Grundkomponenten aufgelöst und diese in Arachne eingepflegt. | |
| Siegel-Liebhaberin Trognitz rührt das wenig: „Ja“, sagt sie: „aber irgend | |
| jemand musste das machen, sonst kämen wir nicht weiter.“ | |
| ## Unklare Berufsbezeichnung | |
| „Arbeiten aufgrund archäologischer Datenbanken sind noch eine Rarität, aber | |
| im Kommen“, sagt Trognitz. Mit Sicherheit wird es künftig an | |
| archäologischen Instituten mehr Stellen für solche ExpertInnen geben, zum | |
| Beispiel für Bildanalyse. Nur über eines zerbricht die junge Frau sich den | |
| Kopf: Was soll ich bloß als Beruf angeben? Mit sich selbst hat sie sich | |
| vorerst auf „Archäoinformatikerin“ geeinigt. | |
| Eine Tür weiter sitzt Prähistoriker Philipp Gerth, 31. Er kümmert sich hier | |
| um die internationale Vernetzung. Und dabei geht es nicht nur um | |
| Digitalisierung vorhandener Daten. Eine zunehmende Menge archäologischer | |
| Informationen erblickt gleich von vornherein in digitaler Form das Licht | |
| der Welt, ob es nun aktuelle Grabungsdaten sind, 3-D-Dokumentationen von | |
| Gebäuden, Satellitenbilder von Fundstätten. | |
| Damit künftig Wissenschaftlerinnen aus ganz Europa ihre Daten austauschen | |
| und vergleichen können, haben sich archäologische Institute und | |
| Technologiezentren zusammengeschlossen zum Projekt [2][Ariadne] – ebenfalls | |
| benannt nach einer antiken Dame mit Fäden. | |
| Ariadne soll unter anderem Forschern bei der Planung ihrer Vorhaben helfen | |
| und sich später auch mit ähnlichen Netzwerken in den USA, Kanada und | |
| Australien verbinden. „Es geht darum, bei Projekten Doppelungen zu | |
| vermeiden und auch einmal erreichte Wissensstände vor dem Vergessen zu | |
| bewahren“, sagt Gerth: „Denn jeder Archäologe, der sich zum Beispiel in | |
| einer Stadt durch verschiedene Schichten hindurchgräbt, Barock, Mittelalter | |
| usw., zerstört mit jeder neuen Schicht, in die er vordringt, die darüber | |
| liegende. Wenn wir diese vorher noch scannen und festhalten, machen wir | |
| unsere Erkenntnisse reproduzierbarer.“ | |
| 22 Aug 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://arachne.uni-koeln.de/drupal/ | |
| [2] http://www.ariadne-infrastructure.eu/ | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Kerneck | |
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