# taz.de -- 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs: Piroggen bei Fred und Alicja | |
> Hauskauf, Eheanbahnung oder einfach Durst: Polen und Deutsche schätzen | |
> die Gaststätte Gospoda im hintersten Winkel von Mecklenburg-Vorpommern. | |
Bild: Alicja von Spiczak Brezinski sorgt dafür, dass ihr Mann Fred ein gutes B… | |
BLANKENSEE taz | Guten Tag! Welches ist das beste Essen, das Sie haben?“ | |
Die füllige Dame, die mit ihrer Reisegesellschaft eben noch auf Polnisch | |
parliert hat, fragt den Wirt in akzentfreiem Deutsch. – „Piroggen“, | |
antwortet Fred von Spiczak Brezinski. – „Piroggen?“ Allgemeine Heiterkeit | |
über diese eher bescheidene Offerte. „Was für Piroggen?“, bohrt die Dame.… | |
„Mit Fleischfüllung und russische.“ – „Russische? Mit Kartoffeln? Nein! | |
Bitte polnische mit Fleisch.“ | |
Die zwei Damen und die beiden Herren sind mitsamt Hündchen von Polen | |
herübergekommen, der Jaguar parkt vor der Tür. Eine halbe Stunde später | |
werden sie abziehen, ohne zu zahlen. Dass ein Besuch in der Gastwirtschaft | |
Gospoda in Blankensee in einem Fiasko endet, ist äußerst selten, doch es | |
kommt vor. Auch bei polnischen Gästen. | |
Noch am Abend wird Fred von Spiczak Brezinski daran zu kauen haben. Wie | |
sich dieses Quartett aufgeführt hat, und das nur, weil er statt polnischer | |
Piroggen versehentlich russische serviert hat. Aber wer kann schon von | |
außen erkennen, ob die Teigtaschen nun Fleisch oder Kartoffeln umhüllen? | |
„Was wir nicht bestellt haben, bezahlen wir auch nicht“, flötet die Dame, | |
steht auf und lässt sich, von einem Herrn gestützt, wie eine Gräfin, zur | |
Limousine führen. Vielleicht wäre das seiner polnischen Frau Alicja nicht | |
passiert? Doch sie musste heute früh mit ihrer Mutter die 15 Kilometer nach | |
Stettin eilen, um die 87-Jährige ins Krankenhaus einzuliefern. „Ach …“ D… | |
Wirt winkt ab, überkandidelte Leute – so was gibt’s in Polen genauso wie in | |
Deutschland. | |
Dabei werden die Piroggen seiner Frau gerühmt, ob mit polnischer, | |
russischer oder mit Blaubeerfüllung. | |
## Hoffnungsfrohes Zeichen | |
Immerhin, man streitet sich nur noch um Speisen und nicht mehr, wie im | |
Sommer 1939, um Oberschlesien, um den „Korridor“ oder um Danzig. Dass sich | |
das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen nach Krieg, Vernichtung und | |
Vertreibung gewandelt hat, dafür ist auch die Gospoda ein hoffnungsfrohes | |
Zeichen, trotz gelegentlicher Rückschläge. Eine Gaststätte im hintersten | |
Winkel von Mecklenburg-Vorpommern, geführt von einem deutsch-polnischen | |
Paar mit dem adligen Namen von Spiczak Brezinski. | |
Den hat der deutsche Gatte in die Ehe eingebracht. „Alter deutscher Adel | |
aus Westpreußen!“ Fred von Spiczak Brezinski, der 1946 in Neumünster | |
geboren wurde und etwas Hanseatisches an sich hat, hebt bedeutungsvoll die | |
Hand. Möglicherweise ist das Geschlecht auch kaschubischer Abkunft. Doch | |
wer kann hier schon zweifelsfrei sagen, welches Blut in seinen Adern | |
fließt, wenn selbst der Chef der fünfköpfigen NPD-Fraktion im Kreistag | |
Andrejewski heißt? | |
Alfons Heimer dürfte, was seinen Namen angeht, keinen Klärungsbedarf haben. | |
Heimer, Jahrgang 1948, aufgewachsen im Hunsrück, pensionierter Zivilbeamter | |
der Bundeswehr und jetzt Herr über das alte Pfarrgrundstück, war bis Juni | |
Bürgermeister von Blankensee. Heimer kann sich hier als einer der wenigen | |
Deutschen mit seinem Nachbarn Fryderyk am Hoftor auf Polnisch unterhalten. | |
Fryderyk ist seiner Tochter Dorota aus Stettin hinterhergezogen und bewohnt | |
mit der Familie die alte Schule. | |
„Dobrze!“ lebt es sich hier, sagt Fryderyk und stellt den Daumen hoch. Es | |
komme eben immer auf die Nachbarn an, lässt er Heimer übersetzen. Er ist in | |
Masuren geboren, hat aber seit 1946 in Stettin gelebt. Seine Tochter, die | |
einen Deutschen geheiratet hatte, wohne schon 20 Jahre hier, erzählt er | |
lächelnd und schließt das Tor. | |
## Deutsches Fremdeln | |
Spiczak Brezinski hat Heimer das erste Bier vor der Gospoda auf einen | |
Holztisch gestellt. Heimer, ein Mann mit silbrigen Stoppeln und | |
rheinhessischem Zungenschlag, erzählt, wie er sich als Beamter Stück für | |
Stück Richtung Osten versetzen ließ. Seine letzte Dienststelle wurde 2005 | |
das deutsch-dänisch-polnische Korps in Stettin. Heimer bezog ein Reihenhaus | |
in der Vorstadt und lebte vier Jahre als Deutscher unter Polen. Und jetzt | |
predigt der Pfarrhausbewohner von den großartigen Möglichkeiten einer | |
zweisprachigen Region und vom Potenzial der „Boomtown“ Stettin. | |
„Ich bin der Bürgermeister vom vorletzten Kaff. Wir haben eine Oper, | |
zeitgenössisches Theater, Ausstellungen, Musik und moderne Kunst!“ So habe | |
er sich bei Amtskollegen gelegentlich vorgestellt, feixt Heimer. Mancher | |
dachte dann wohl, das Leben in der Einöde habe den Pensionär meschugge | |
gemacht, dabei sprach er nur von den kulturellen Vorzügen Stettins. Das | |
Fremdeln auf deutscher Seite resultiere aus einer Unsicherheit, glaubt | |
Heimer. Landbevölkerung, abgeschottet, überaltert und ausgedünnt, trifft | |
auf gebildete, aufstrebende Großstädter. „Doch über kurz oder lang wird | |
Stettin das Zentrum, und wer zweisprachig ist, hat Vorteile“, fasst Heimer | |
seine Überzeugung zusammen. | |
Das Bürgermeisteramt hat er im Juni abgegeben. Jetzt werkelt Heimer | |
tagsüber an seinem Haus, kloppt mit den Männern aus Blankensee abends in | |
der Gospoda Skat und zieht am Wochenende mit Fryderyk zu den Heimspielen | |
von Pogon Szczecin. Was er braucht, kauft er in Stettin, und wenn ihn | |
Zahnweh plagt, fährt er nach drüben. Heimers straffes, freundliches Gesicht | |
wirkt sehr zufrieden. | |
Nicht jeder ist mit der Stadt und dem dortigen Gesundheitswesen so | |
glücklich wie Alfons Heimer. „Das ist schwarzes Land! Das ist Bangladesch!“ | |
Alicja von Spiczak Brezinski ist am nächsten Morgen mitsamt kranker Mutter | |
aus Stettin zurück, und was sie erlebt hat, lässt sie immer noch beben. Was | |
für ein Land! Der dringend benötigte Sauerstoff könnte sechs Wochen auf | |
sich warten lassen, stattdessen drückten die polnischen Ärzte der betagten | |
Frau einen Karton mit allerlei Tabletten in die Hand. Dieser Cocktail | |
könnte die Dame vergiften, mutmaßt Ehemann Fred nach einem Blick. | |
## Schlichte Speisen | |
Eigentlich ist Wirtin Alicja eine Frau, die stets das Gute erkennt, | |
zumindest in Blankensee. Doch mit ihrer Heimatstadt Stettin geht sie hart | |
ins Gericht. Nach den Elogen von Alfons Heimer scheint es eine andere Stadt | |
zu sein. Mit einer Zigarette beruhigt sich die Wirtin. „Gospoda“ heiße | |
Gaststätte, ganz einfach, sagt sie. „Und wir sind einfache Leute, machen | |
schlichte Speisen, Piroggen, Mehlsuppe, wie bei Tante und Onkel.“ | |
25 polnische Familien leben inzwischen in Blankensee, berichtet sie, und es | |
werden immer mehr, auch mit ihrer Hilfe. Nebenbei hilft sie Polen beim | |
Hauskauf und Deutschen bei der Eheanbahnung. Ein Einheimischer wünscht sich | |
eine polnische Frau und hat sie um Hilfe gebeten, erzählt sie lachend. | |
Immerhin die beste Art der Völkerverständigung. | |
Doch ganz gleich ob Deutsche oder Polen – von den Einheimischen kann die | |
Gospoda nicht leben. Es sind die Urlauber, die den Oder-Neiße-Radweg | |
erkunden, der am Haus vorbeiführt. „Wollen Sie etwas trinken? Wir haben | |
polnischen Wodka!“ Die Radler, die gerade angekommen sind, reißen abwehrend | |
die Hände hoch. Es ist schließlich Mittag. Es war auch nur ein Scherz der | |
Wirtin. Bald kommt sie mit Limonade zurück. | |
Sie ist in Stettin geboren, erzählt Alicja in einer Pause. Ihre Mutter | |
aber, die sich gerade von den Strapazen draußen in der Sonne erholt, stammt | |
aus Vilnius und wurde mit der Familie 1945 vertrieben. Im Juni sind sie im | |
Güterwaggon in Stettin angekommen. Um Wasser zu holen, wurde ihre Mutter, | |
ein Mädchen noch, zur Oder geschickt. | |
Tote deutsche Soldaten in voller Montur, doch ohne Stiefel trieben vorbei. | |
Die Arme bewegten sie rhythmisch mit den Wellen. Und als ob das nicht | |
reichte, sah sie auf dem Bahnhof reglos Flüchtlinge hocken, von denen sie | |
nicht wusste, ob sie noch lebten oder schon verwesten. Fliegen über Fliegen | |
schwirrten umher. Dazu tanzten Bettfedern in der Luft wie Schnee. | |
Vermutlich haben russische Soldaten Kissen aufgeschlitzt, als sie in der | |
Stadt nach Beute suchten. Es muss eine Apokalypse gewesen sein. So begann | |
hier die deutsch-polnische Nachbarschaft. Durchaus bemerkenswert, was sich | |
seitdem entwickelt hat. Alicja seufzt. „Das sind schöne Sachen. Hoffentlich | |
bleibt es so.“ | |
Und wieder kommt eine Bestellung. Piroggen! Die Wirtin eilt zum | |
Kühlschrank. „Pass auf, welche du nimmst“, mahnt Fred. Sonst könnte es | |
Ärger geben. | |
1 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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