| # taz.de -- Kolumne Kulturbeutel: Wenn der Wille bricht | |
| > Zwei Romane beschreiben die Qualen jugendlicher Spitzenturnerinnen. Sie | |
| > erzählen von Disziplin, Missbrauch und dem Hass auf den eigenen Körper. | |
| Bild: Nadia Comanecis Erben: Silvia Stroescu als 18-jährige bei den Olympische… | |
| Nadia trug meistens Rattenschwänze bei ihren Wettkämpfen. Der Trainer und | |
| seine Frau haben sie ihr gebunden. Auch Antonia ist mit zu Rattenschwänzen | |
| gebundenen Haaren auf den Schwebebalken gestiegen. 1976 hatten beide ihre | |
| größte Zeit. Antonia wurde Dritte bei den deutschen Meisterschaften – und | |
| Nadia zum vielleicht berühmtesten Mädchen der Welt, als sie bei den | |
| Olympischen Spielen von Montreal mit nicht für möglich gehaltenen | |
| Traumnoten zur planetarischen Vorturnerin wurde. | |
| Nadias Erfolge sind echt, tausendmal gefeiert, noch öfter nacherzählt | |
| worden. Sie wurden verfilmt und sind längst legendär. Jetzt hat es Nadia | |
| Comaneci noch einmal zur Romanheldin geschafft, weil die französischen | |
| Schriftstellerin Lola Lafon herausfinden wollte, warum die kleine, | |
| großartige Turnerin so geworden ist, wie sie war. | |
| „Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte“ heißt Lafons Roman, der von | |
| Elsbeth Ranke ins Deutsche übersetzt wurde (Piper Verlag, München 2014). Er | |
| erzählt nicht nur die oft gehörte Geschichte vom gewitzten Kinderquäler | |
| Bela Karoly, der in der rumänischen Provinz eine Wunderkinderturnschule | |
| aufbaut, wo er die kleinen Mädchenkörper so biegsam macht, dass die | |
| Konkurrenz, vor allem die aus Russland, nicht den Hauch einer Chance hat. | |
| 14 war die legendäre Nadia Comaneci, als sie die Welt 1976 zum Staunen | |
| brachte, zum rumänischen Vorzeigeprodukt wurde, das Staatsbesuchern | |
| vorgezeigt wurde. Die wollten Rumänien oft nicht verlassen, bevor sie die | |
| wunderbare Nadia nicht in Augenschein genommen hatten. | |
| Und so beschäftigt sich Lafon nicht nur mit der Kinderquälerei, die das | |
| Kunstturnen darstellt, sondern mit dem brutalen Staat Rumänien und der | |
| Rolle ihrer turnenden Botschafterin, die am Ende der Ceaucescu-Herrschaft | |
| so etwas wie ein Spielzeug des verwöhnten Diktatorensohns gewesen ist. | |
| Lafon will verstehen, warum sie mitgespielt hat und dem Staat auch nach | |
| ihrer Flucht im November 1989 nicht wirklich untreu wurde. Als willenloses | |
| Etwas kommt Nadia im Roman nicht gerade gut weg. War es das mörderische | |
| Kinderturnen, das ihren Willen früh gebrochen hat? Gut möglich. | |
| Um das Brechen jeglichen Willens geht es auch in der Geschichte der | |
| Turnerin Antonia Heinrich, die die Sportjournalistin Evi Simeoni in ihren | |
| Roman „Rückwärtssalto“ gepackt hat (Klett-Cotta, Stuttgart 2014). Ein | |
| System, das seine Bürgerinnen und Bürger regelrecht verhungern hat lassen, | |
| steht nicht hinter der Karriere, von der da die Rede ist. | |
| Mutter und Vater beschließen, dass das kluge Mädchen kurz gehalten werden | |
| soll, damit es nicht zu arrogant wird. Und so beginnt eine Zeit des Leidens | |
| unter den Eltern und den zwei Brüdern. Aus dem Leiden versucht sie zu | |
| entrinnen, indem sie alles dem Turnsport unterordnet, wo Trainer Henz auch | |
| nichts anderes macht, als den Willen des Kindes zu brechen. Den Schmerz | |
| beim Turnen lässt Antonia über sich ergehen, um ihrem Trainer zu gefallen. | |
| Und so ist sie ihm längst verfallen, als er sich eines Nachts im | |
| Trainingslager über sie hermacht. Später, als Henz Antonias Mann ist, steht | |
| sie immer noch unter seiner Fuchtel. Auch bei Simeoni geht es um die Frage, | |
| was das Turnen mit einen Mädchen machen kann. | |
| Am Ende der Lektüre fragt man sich, warum die ganze Schinderei überhaupt | |
| sein darf. Der Hass auf die eigenen Brüste, der Hass auf jedes Gramm, das | |
| in der Pubertät zu viel am Körper haften bleibt, bestimmt die Jugend beider | |
| Mädchen. Grauenhaft liest sich das Leben dieser Kinder. Turnen in der | |
| sogenannten freien Welt ist nicht viel anders als das Kinderschinden im | |
| Schergenstaat Ceausescus. | |
| Das Brechen von Persönchen wird als Voraussetzung für den Turnsport | |
| beschrieben. | |
| Knack. | |
| 3 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Rüttenauer | |
| ## TAGS | |
| Missbrauch | |
| Roman | |
| Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
| sexueller Missbrauch | |
| Kurzfilm | |
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