# taz.de -- Die Wahrheit: Sie tanzen auf unseren Knochen | |
> Die Finnenwoche der Wahrheit: Ganz Finnland ist fest im Griff einer | |
> gnadenlosen Festival-Mafia. Ein Whistleblower packt aus. | |
Irgendwo an der deutsch-belgischen Grenze, an einem geheimen Ort, treffen | |
wir Jari Haapala. Er ist erst vor wenigen Wochen unerkannt aus Finnland | |
ausgereist und hält sich seither in einer kleinen Pension auf dem Lande | |
versteckt. Seine Gründe dafür sind triftig: Er ist ein Whistleblower. Wir | |
tarnen uns für das Treffen mit dem Lieferwagen einer Klempnerfirma. Im | |
Blaumann, die Aufnahmegeräte im Werkzeugkasten verborgen, nähern wir uns | |
dem schlichten Einfamilienhaus. | |
Die Wirtin, halbwegs in die Pläne eingeweiht, führt uns in den ersten | |
Stock. Als wir eintreten, schreckt Haapala von seinem Stuhl auf. Er ist ein | |
schlanker Mittdreißiger mit blasser Gesichtsfarbe und etwas hängenden | |
Schultern. Sein Blick flackert unruhig, als er uns die Hand gibt. Er sei | |
bereit, sagt er in finnisch gefärbtem Englisch, alles auszupacken. Auch | |
wenn es nicht leicht fällt. Auf dem Tisch liegt ein Datenstick. Wir setzen | |
uns. | |
"Waren Sie schon einmal in Finnland?", eröffnet er das Gespräch. Wir | |
nicken. "Dann kennen Sie ja die Festivalkultur bei uns.“ Zumindest habe ich | |
schon so einiges gehört: Musikfestivals, Wettbewerbe im Frauentragen, | |
Handyweitwurf, Sumpffußball und natürlich die legendäre, alljährliche | |
Luftgitarren-Weltmeisterschaft. "Genau." Haapala nickt. "Man könnte nun | |
denken, die Finnen seien einfach ein kreatives, feierfreudiges Volk mit | |
skurrilen Ideen", spricht er weiter. „Aber das Gegenteil ist der Fall: | |
Alles ist von oben gesteuert.“ Sein linkes Augenlid beginnt zu zucken, sein | |
Gesichtsausdruck wird düster, er sieht zu Boden. "In Wirklichkeit tanzen | |
sie auf unseren Knochen." Es dauert einige Minuten, bis Haapala wieder | |
sprechen kann. | |
„In den achtziger Jahren kamen die ersten Vorschläge, das ganze Land im | |
Sommer mit Festivals zu überziehen. Doch erst mit dem Fall des Eisernen | |
Vorhangs nahm das Verhängnis seinen Lauf." Haapala wischt sich über den | |
Mund. "Anfang der neunziger Jahre ging bei uns alles drunter und drüber, | |
der sowjetische Markt für unsere Waren war weggebrochen, viele Leute wurden | |
arbeitslos.“ | |
## | |
Da sei ein Ungar namens Andor Kelemen aufgetaucht, auch er ein Versprengter | |
aus den Wirren der Perestroika. "Er war unter dem alten Regime | |
Kulturattaché der ungarischen Botschaft gewesen und unterhielt viele | |
Kontakte in die finnische Kulturszene. Es war seine Initiative, Finnland | |
als Land der Festivals zu etablieren." | |
Jari Haapala fährt sich durch die blonden Haare. "Natürlich haben ihm auch | |
seine Kontakte zu finnischen Spitzenpolitikern geholfen. Dass er letztlich | |
nur das Werkzeug einer mafiösen Organisation aus dem zerbrochenen | |
Sowjetreich war, haben die Kulturschaffenden nicht durchschaut", sagt | |
Haapala erbost. "Sie brauchten einfach Geld. Und sie freuten sich darüber, | |
dass sie sich verwirklichen konnten. Dachten sie." | |
So sei die Organisation Suomi Festival entstanden, im ostfinnischen | |
Savonlinna, wo man gleich das traditionsreiche Opernfestival mit übernahm. | |
Geld sei reichlich geflossen. Und zwar aus dem Ostblock. "Die genaue | |
Identität von Kelemens Hintermännern ist allerdings bis heute unbekannt", | |
meint Whistleblower Haapala. | |
Eine der frühen, sehr erfolgreichen Entwicklungen von Suomi Festival war | |
1996 die erste Luftgitarren-WM in Oulu. "Diese Veranstaltung hat sich nicht | |
einfach so entwickelt", schnaubt Haapala, "das haben unsere Leute in | |
Zusammenarbeit mit Trendscouts und Marktforschern aus aller Welt von langer | |
Hand eingefädelt. Deswegen kommen auch so viele Leute aus dem Ausland | |
dorthin." | |
Im Jahr 2000 lancierte Suomi Festival dann auf eigenem Terrain in | |
Savonlinna die erste Handyweitwurf-WM, die seither jedes Jahr dort | |
stattfindet. "Natürlich sind für diese Entwicklung zusätzlich Gelder aus | |
der Wirtschaft geflossen, denn schließlich hatten wir damals den | |
weltgrößten Handyhersteller im Land", sagt Haapala. | |
"Der nächste Coup war der Sieg von Lordi beim ESC 2006. Die armen Kerle | |
mussten anschließend jahrelang als Aushängeschild finnischer Kultur | |
herhalten. Kein Wunder, dass sie ihre Gesichter nie zeigen." Und das seien | |
nur drei Beispiele von vielen. "In den letzten zwanzig Jahren hat sich die | |
Zahl der Festivals bei uns vervierfacht", fasst Haapala resigniert | |
zusammen. | |
Er selbst kam 2007 zur "Firma", wie er die Organisation nennt. Er hatte | |
Dramaturgie studiert und war begeistert von dem Stellenangebot: Gesucht | |
wurden junge Absolventen mit geisteswissenschaftlichem oder künstlerischem | |
Studienabschluss. Arbeitsort sollte Savonlinna sein. "Alles klang toll, es | |
war die Rede von einem ,eingespielten, kreativen Team', von der Entwicklung | |
neuer Ideen …" Haapalas Stimme bricht, er nimmt sich ein Taschentuch. | |
Minutenlang sitzt er mit geschlossenen Augen da, bevor er weitersprechen | |
kann. | |
## | |
"Dann kam der Bunker." Er schluckt noch einmal. Dann wird seine Stimme | |
wieder fester. "Denn unser Arbeitsort war kein schönes, helles Büro, | |
sondern wir mussten in die Katakomben tief unter der Burg Olavinlinna, wo | |
jeden Sommer Tausende Opernfans den besten Stimmen der Welt lauschen. | |
Keiner von denen weiß, dass dort, unter ihren Füßen, ein Heer von | |
Verzweifelten und Geknechteten schuftet. Sogenannte Festivalentwickler, die | |
den ganzen Tag nichts anderes tun, als sich für einen Hungerlohn Konzepte | |
für neue Festivals auszudenken. Der wertvolle kulturelle Nachwuchs des | |
Landes!" Haapala hat sich in Rage geredet, auf seiner Stirn glänzen | |
Schweißperlen. | |
"Alles ist natürlich streng geheim. Es gibt ein hartes System von Strafe | |
und Belohnung, man wird ständig überwacht und darf kein privates Wort mit | |
den Kollegen wechseln. Alle haben Decknamen! Ich hieß zum Beispiel | |
Cornelius. Den ganzen Quatsch haben wir diesem durchgedrehten Ungarn zu | |
verdanken, der seine Diktatur nicht hinter sich lassen konnte." Kelemen sei | |
zwar inzwischen mit all seinem Geld auf die Salomonen ausgewandert, aber | |
sein System bestehe noch immer. | |
"Und das Schlimme ist", Haapala beugt sich vor und flüstert, als fürchte | |
er, abgehört zu werden, "das Schlimme ist, dass fast alle Menschen in | |
Finnland von dieser Mafia abhängig sind." Auf unsere Nachfrage hin | |
präzisiert er: "Irgendwo muss doch das Publikum herkommen. Was denken Sie | |
denn? Jeder weiß, dass die Finnen im Sommer am liebsten in ihrer Hütte am | |
See in Ruhe angeln und grillen wollen. Also bekommen sie | |
Steuererleichterungen, wenn sie regelmäßig Festivals besuchen!" | |
## | |
Haapala zeigt auf den Datenstick: "Dort finden Sie alle Beweise. Auch | |
dafür, dass allerhöchste Regierungskreise in diese Sache verstrickt sind. | |
Und das ist nicht alles. Ich fürchte, der lange Schatten des Andor Kelemen | |
wird uns noch viele Jahre begleiten." | |
Jari Haapala sinkt erschöpft in sich zusammen. Sein Gesicht ist von | |
wächserner Blässe. Er greift nach dem Datenstick. "Nehmen Sie", flüstert | |
er. "Bringen Sie es an die Öffentlichkeit. Das bin ich meinen Landsleuten | |
schuldig." | |
Zurück im Klempnerwagen: Mein Kollege legt gerade den ersten Gang ein und | |
setzt den Blinker, als wir im Rückspiegel einen dunkelblauen Mercedes mit | |
Diplomatenkennzeichen herangleiten sehen. Er biegt in die Hofeinfahrt der | |
Pension ein. Ich taste in der Tasche meines Blaumanns nach dem Datenstick | |
und nicke meinem Kollegen zu. Unauffällig rollen wir davon. | |
11 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Tanja Küddelsmann | |
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