# taz.de -- Restaurant im City-Ikea: Die Agora unserer Zeit | |
> Das Restaurant im Ikea in Hamburg-Altona ist der neue Treffpunkt für | |
> Anwohner und Besucher des Stadtteils. Es ist ein Ort, der Sicherheit | |
> vermittelt. | |
Bild: Zur Eröffnung war auch Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) da: Restaurant i… | |
HAMBURG taz | Stadtbewohner sind Menschen, die viel aneinander vorbeilaufen | |
und wenig voneinander wissen. Ihr Bedürfnis, das zu ändern, ist groß: Sie | |
wollen wissen, wer die anderen sind, was sie denken und womit sie ihr Geld | |
verdienen. Sie wollen wissen, wo sie selbst stehen in dieser Gesellschaft, | |
die ihre Stadt ausmacht. Deshalb braucht die Stadt Orte, an denen sich die | |
Menschen treffen können, und zwar möglichst zwanglos und mit etwas Zeit. | |
In der griechischen Polis, der Vorläuferin der abendländischen Stadt, gab | |
es für diesen Zweck einen zentral gelegenen Markt- und Versammlungsplatz | |
namens Agora. Die Agora machte aus den Stadtbewohnern eine Gemeinschaft, | |
die im Lauf der Zeit lernte, selbst über ihre Geschicke zu entscheiden. Für | |
die Entwicklung der Demokratie war die Agora eine treibende Kraft. | |
Heutzutage braucht die Demokratie keine Agora mehr, um zu funktionieren. | |
Die Idee eines offenen Treffpunkts der Stadtgesellschaft aber gibt es nach | |
wie vor: Die SPD hat dafür in den 1970er-Jahren die Bürgerhäuser erfunden, | |
die allerdings in der Regel zu spröde sind, um als Agora zu funktionieren. | |
Wie eine moderne, funktionierende Agora aussieht, das hat Ikea in der | |
Großen Bergstraße in Hamburg-Altona vorgemacht: Dort gibt es seit Juli die | |
deutschlandweit erste Ikea-Filiale in Innenstadtlage. Das Restaurant des | |
City-Ikea ist für den Stadtteil zur Agora geworden. | |
Das Restaurant befindet sich im ersten Stock und ist zunächst vor allem | |
groß und großzügig eingerichtet. Der Selbstbedienungsbereich und die | |
Sitzbereiche gehen nahtlos ineinander über und die Wand zur Großen | |
Bergstraße ist voll verglast, was den Eindruck der Größe und Offenheit des | |
Restaurants verstärkt. | |
In der Mitte des Restaurants steht wie ein öffentlicher Brunnen eine | |
Zapfstation für Softdrinks und Wasser. Ein leeres Glas für die | |
alkoholfreien Getränke kostet einen Euro und kann beliebig oft aufgefüllt | |
werden. Im Selbstbedienungsbereich gibt es ab 8 Uhr morgens warme und kalte | |
Gerichte, es gibt Frühstück, Mittagstisch, Snacks, Kuchen und Desserts zu | |
niedrigen Preisen. Egal, wann die Gäste kommen, sie können sich hier immer | |
der Tageszeit entsprechend verpflegen. | |
Besucht wird das Ikea-Restaurant nicht nur von Kunden, sondern von Leuten, | |
die im Stadtteil wohnen. An einem durchschnittlichen Werktag zeigt sich ein | |
breiter Querschnitt der Altonaer Bevölkerung: Es kommen junge Mütter mit | |
Kinderwagen, türkische Omas, Schüler, Business-Leute, Hipster und | |
mittelalte Ehepaare mit modischer Kleidung. | |
Das Restaurant wirkt auf den ersten Blick wie die Realisierung einer | |
Utopie: Eine Stadtgesellschaft trifft sich in einem großzügigen Ambiente, | |
jeder hat Platz, niemand wird ausgeschlossen, an alle wird gedacht. Für die | |
Babys gibt es einen Wickelraum und für die Alten gibt es Rollatoren, auf | |
denen sich die Tabletts aus dem Selbstbedienungsbereich transportieren | |
lassen. Viele der Besucher bringen Zeit mit. Sie sind nicht nur zum Essen | |
gekommen. | |
Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Offenheit dieser | |
Stadtgesellschaft auf eine subtile Art eingeschränkt ist. Ikea definiert | |
über die Möblierung der Sitzflächen vier Bereiche: Es gibt einen Bereich | |
mit Bartischen, einen mit konventionellen Sitzgruppen, einen mit bunten | |
runden Tischen und einen mit Lounge-Sesseln. | |
An einem durchschnittlichen Werktag setzen sich die Hipster und die | |
Business-Leute an die Bartische, die Großmütter an die Sitzgruppen, die | |
Mütter an die bunten runden Tische und die Ehepaare in die Lounge-Sessel. | |
Die Hipster nutzen die Aussicht auf die Große Bergstraße, die | |
Business-Leute führen ihre Geschäfte weiter, die Omas essen Kuchen und bei | |
den runden bunten Tischen gibt es Spielkonsolen für die Kinder. | |
Niemand sagt den Besuchern, wo sie sich hinsetzen sollen, es ist lediglich | |
die Art der Möbel, die die Aufteilung der Besucher steuert: Jeder geht | |
automatisch da hin, wo ihm Ikea seinen Platz zugedacht hat. Das Restaurant | |
ist nur in der Theorie ein sozial durchlässiger Ort, in der Praxis ist er | |
es nicht. Die Besucher scheinen das zu schätzen: Sie bleiben unter | |
ihresgleichen und sind zugleich öffentlich. | |
Die Idee von Demokratie, für die Ikea steht, ist nicht die der sozialen | |
Durchlässigkeit. Sie ist die, dass jeder in der Gesellschaft seinen Platz | |
haben sollte. Es ist ein im Kern konservatives Gesellschaftskonzept, aber | |
auch eines, das Sicherheit gibt: Hier wird niemand ausgeschlossen, hier ist | |
Platz für alle. | |
Ikea schafft es mit seiner Agora-Variante, nicht nur die eigenen Möbel zu | |
präsentieren, sondern sie emotional aufzuladen. Einen Stuhl, der einem | |
einen Platz in der Gesellschaft sichert, will man gern mit nach Hause | |
nehmen. Zumal in Zeiten, in denen das Dazugehören immer schwieriger wird: | |
Wer heutzutage in Altona wohnen möchte, muss viel Geld mitbringen, um eine | |
Wohnung bezahlen zu können. | |
Die Ansiedlung der City-Filiale macht die Große Bergstraße zum Boulevard | |
und reißt die Mieten in die Höhe. Zugleich finden verunsicherte Menschen | |
bei Ikea einen Platz, der sich sicher anfühlt und den sie bezahlen können. | |
Ikea hat mit seiner City-Variante ein Problem verschärft und verkauft | |
zugleich eine Lösung dafür. Die Geschäftsstrategie ist perfide – und | |
genial. | |
14 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
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