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# taz.de -- Graphic Novel zur Wende: Illustrierte Schnoddrigkeit
> „Treibsand“ erzählt von der Berliner Wendezeit aus Sicht eines
> US-Korrespondenten. Die Graphic Novel vereint Groteske mit kindlicher
> Naivität.
Bild: Die Graphic Novel zu den letzten Tagen der DDR.
Für einen Journalisten scheinen die eigenen Zähne wichtige Indikatoren für
das Weltgeschehen zu sein. Sind sie gesund, tritt die Geschichte auf der
Stelle. Sind die Zahnschmerzen kaum auszuhalten, bröckeln alte
Machtstrukturen und die nächste Diktatur versinkt so sicher wie einst
Vineta. Zumindest Tom Sandmans amerikanisches Reportergebiss besitzt diesen
Instinkt. Der New Yorker kehrt gerade aus China zurück, wo er Zeuge der
Massaker auf dem Tiananmen-Platz war. Sein Chef gönnt ihm keine Pause und
schickt seinen urlaubsreifen Angestellten sogleich zum nächsten Krisenherd:
Berlin.
Die Graphic Novel „Treibsand“ handelt von den Ereignissen, die im Sommer
und Herbst 1989 zum Mauerfall führten – geschildert aus der Sicht eines
US-Korrespondenten, der von der Massenflucht Ostdeutscher über Ungarn nach
Österreich nur entfernt gehört hat und nun die aktuelle Lage in Berlin
einschätzen soll. Dabei hilft ihm die Insiderin Ingrid, eine
Exleistungsschwimmerin, die vor Jahren über die Ostsee aus der DDR fliehen
wollte, erwischt und zu Haft verurteilt wurde, bis sie der Westen
freikaufte.
„Treibsand“ ist – nach der im Vorjahr erschienenen Graphic Novel „17. J…
– Die Geschichte von Armin und Eva“ über den Arbeiteraufstand in der DDR
von 1953 – die zweite Zusammenarbeit der Autoren Max Mönch und Alexander
Lahl mit der Illustratorin Kitty Kahane, deren Stil Groteske mit kindlicher
Naivität vereint.
Diesmal ist der Anspruch spürbar, die ganze Fülle der historischen
Ereignisse darzustellen – mit der Absicht, aus der Perspektive eines
Unbeteiligten die Zeitläufte verständlich zu machen. Viele Etappen der sich
überschlagenden Vorgänge im Sommer 89 werden nur angerissen und vermitteln
so komprimierte Eindrücke, wie etwa von der Besetzung der westdeutschen
Botschaft in Prag.
## Träume auf Karopapier
Durch Ingrids Erzählung bekommen die Leser zusammen mit Tom Sandman, der
sich zwangsläufig in die sportive Blondine vergucken muss, Einblicke in die
Zustände in der berüchtigten Frauenhaftanstalt Hoheneck oder in die Szene
der Oppositionellen, die in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg ihr –
wach bespitzeltes – Zentrum fand. Immer wieder wird die Kernhandlung um den
Journalisten, der nach einer guten Story sucht, kurz unterbrochen, um die
Hintergründe zu erläutern.
Tom Sandman neigt zum Träumen, weswegen er seine Erlebnisse in wüsten
surrealen Träumen verarbeitet, die – um von der realen Handlung
unterscheidbar zu sein – auf einfaches Karopapier gezeichnet sind. Diese
zusätzlichen Unterbrechungen bremsen das Tempo der Erzählung allerdings ab.
Abgesehen davon ist die Graphic Novel von einer Leichtigkeit geprägt, die
die komplexen Ereignisse auf treffende Weise verdichtet und bei jeder
Gelegenheit satirisch zuspitzt – wenn etwa vom „Greisenorchester“ um Erich
Honecker die Rede ist. Besonders gelungen die Episode mitten in der Nacht
der Maueröffnung, wenn sich die „Kamera“ auf die Militärführung in
Strausberg richtet, wo die uniformierten Hinterwäldler nichts von den
Veränderungen mitbekommen und stattdessen lieber Wildschweine schießen, die
ums Haus jagen.
Den Zeichnungen Kitty Kahanes (einfühlsam in gedämpften Farben koloriert
von Dominique Kahane) wohnt eine zum Schauplatz Berlin passende
Schnoddrigkeit inne. Auf spielerische Weise ordnet die Zeichnerin ihre
Panels auf jeder Seite neu an oder bringt sie vielmehr in Unordnung, was
aus dem ganzen Buch eine bunte, inspiriert wirkende Geschichtsstunde macht,
der man den didaktischen Ansatz nicht ansieht.
Wohltuend auch, dass an keiner Stelle auch nur ein Anflug von Ostalgie
erkennbar ist, vielmehr wird die Unerbittlichkeit und Kälte eines aus
heutiger Sicht absurd erscheinenden Systems aufgezeigt – sei es während
Ingrids Einsitzen in Hoheneck oder in der Szene, in der ihr Bruder, ein
Grenzsoldat, einer Gehirnwäsche unterzogen wird, um sich von seiner
Schwester zu distanzieren und damit dem Volk weiter „dienen“ zu dürfen.
Sozialistischer Psychoterror vom Feinsten, der Familien zerstören konnte.
8 Nov 2014
## AUTOREN
Ralph Trommer
## TAGS
Mauerfall
DDR
Schwerpunkt Syrien
Avant-Verlag
Mauerfall
Wende
Schwerpunkt Rassismus
Zentrum für Politische Schönheit
DDR
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