# taz.de -- Theaterstück über Flucht: Brutale Geschichten am Bahnsteig | |
> Viele Theater bringen das Thema Flüchtlinge auf die Bühne. Das Stück | |
> „November und was weiter“ von der Gruppe Das Letzte Kleinod ist anders. | |
Bild: Irgendwann brannte das ganze Haus: Da floh die Roma-Familie nach Deutschl… | |
HAMBURG taz | Flüchtlinge: Viel war in den vergangenen Monaten dazu zu | |
sehen auf deutschen Bühnen, manchmal standen sie da sogar selbst. An der | |
jüngsten Produktion der Gruppe [1][Das Letzte Kleinod] um Regisseur | |
Jens-Erwin Siemssen ist vieles anders als bei den meisten anderen | |
Befassungen – nicht nur, dass „November und was weiter“ in Eisanbahnwaggo… | |
Container und UN-Zelt in Szene gesetzt wird. | |
Gewiss, fundamental neu ist auch das erst einmal nicht: Ja, hinter den | |
anfangs noch erschütternden Zahlen, die die Nachrichten bringen, verbergen | |
sich Menschen. Und die verlassen nicht aus bloßem Schierschandudel – für | |
Nichtbremische: Jux und Dollerei – ihre Heimat und nehmen den Weg nach | |
Europa auf sich. | |
Immer wieder sind es junge Menschen, die ihre Familien zurücklassen, deren | |
Erspartes sie für den Weg aufbrauchen – um dann, kaum angekommen, entweder | |
gleich wieder zurückgeschickt werden; oder aber hier gar nicht tun können, | |
was der Zweck der Reise war: Geld zu verdienen, um die Armut der | |
Daheimgebliebenen zu lindern. | |
Dieses Aufbrechen erscheint meist als letzte Möglichkeit, | |
lebensbedrohlichen Verhältnissen zu entkommen, die Reise selbst ist | |
lebensgefährlich und Tausende schaffen es nicht an ihr Ziel – all das steht | |
auch in der Zeitung, in Romanen, Reportagen, ist im Fernsehen zu sehen. Und | |
doch trifft Siemssens Stück einen Punkt, den kaum eine jener anderen | |
Inszenierungen erreicht. | |
## Frösteln beim Einlass | |
Schon auf dem Weg zum Gestenseether Bahnsteig, wo „November und was weiter“ | |
seit Donnerstag gespielt wird, fröstelt es einen, und das nicht allein der | |
Temperaturen wegen. Es sind auch die Scheinwerfer, die das Dunkel punktuell | |
erhellen wie Suchscheinwerfer: das Zelt hinter dem Bahnhof, das, kaum zu | |
übersehen, vom UNHCR stammt, der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen. | |
Über den Bahnsteig geht es dann in einen Waggon, der zunächst ganz | |
gemütlich erscheint. | |
Im spärlich eingerichteten Wageninneren bollert ein Ofen, auf einer | |
Kochstelle wird Mokka gebraut. Eine alte Dame schläft im Sessel, später | |
wird sie weltenmüde seufzend aufstehen, einen Scheit aufs Feuer werfen. | |
Lange herrscht Stille. Bis die jungen Frauen zu erzählen beginnen: von | |
Serbien und davon, wie sie dort als Roma behandelt wurden. Manchmal fuhren | |
junge Leute nach der Disko noch am Haus vorbei, die Scheiben einwerfen, so | |
ein-, zweimal im Monat. Manchmal wurden sie angegriffen, verprügelt. | |
Einmal wurde das Haus sogar angezündet, der Opa, der im ersten Stock wohnte | |
und nicht mehr gut zu Fuß war, schaffte es nicht heraus. Jetzt ist er tot. | |
So packte der Vater eines Tages seine Kinder ein und los ging es nach | |
Deutschland, pro Person 600 Euro bezahlte er für ein Leben, das nicht ganz | |
so bedrohlich sein sollte – auch wenn hier schon mal die Staatsgewalt die | |
Tür eintritt. Geduldet ist die Familie, und das noch bis November. Und was | |
dann? | |
Die nächste Station ist das UNHCR-Zelt. Hier spielt eine noch brutalere | |
Geschichte: Jahre im Lager, Flucht aus dem Sudan, über Libyen, | |
Polizeigewalt, ausgeschlagene Zähne – so ganz lässt sich nicht ausmachen, | |
wessen Geschichte da eigentlich genau erzählt wird. | |
Wer im Zelt ein „echter Flüchtling“ ist, wer Schauspieler, wer Publikum, | |
wer Chor. Schauspieler sprechen Texte, die offenbar aus Erzählungen der | |
Flüchtlinge montiert sind: rudimentäre Sätze, gebrochene Syntax. | |
Authentisch? Eher real – aber nicht 1:1. | |
Die dritte Szene spielt in einem Kühlcontainer, in dem das Publikum auf | |
provisorischen Bänken zusammengepfercht wird. Schlimmer aber hat es die | |
beiden junge Männer aus Afghanistan erwischt, die auf dem Weg nach | |
Griechenland sind: Zwischen Europaletten kauern sie in Dunkelheit und | |
Kälte, gepinkelt wird in die Flasche. Einer der beiden verließ die Heimat, | |
weil er das falsche Mädchen liebte. Sie wollten heiraten, gingen zusammen | |
ins Kino. Das Mädchen schlugen die eigenen Brüder tot. | |
## Nicht schlauer, aber herzensklüger | |
Ein Drinnen, das nur notdürftig schützt, das bedrohliche Draußen, eine | |
Notration, die sie mit uns teilen – und ein Lied. Das ist den drei | |
Geschichten gemeinsam. Und die Hoffnungen, die zuverlässig enttäuschten, | |
auch wenn die Sudanesen, die in Geestenseth untergebracht sind, jetzt | |
wenigstens Fußball spielen können, statt unablässig um ihr Leben zu | |
fürchten. | |
Was Siemssen mit minimaler Requisite zeigt, lässt uns, wenn nicht schlauer, | |
dann doch herzensklüger zurück. Das Theater ist hier ein Stück sozialer | |
Praxis, involviert die Flüchtlinge und nimmt sie ernst. Und entwickelt eine | |
Dringlichkeit, die den Zuschauenden geradezu zwingt, eine Haltung | |
einzunehmen. | |
22 Nov 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.das-letzte-kleinod.de/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Schnell | |
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