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# taz.de -- Das Sterben der Nachtzüge: Leise rattern die Schienen
> Die Bahn hat im Dezember einige Nachtzüge gestrichen. Unser Autor war mal
> Schlafwagenschaffner. Zeit, sich zu erinnern.
Bild: Marilyn Monroe, als der Nachtzug noch en vogue war. In: „Some Like It H…
Gehöfte und ein paar wenige Wohnhäuser säumten die laternenlose Straße,
aber nun bogen wir auf einen Schotterweg ein, uneben und in doppelter
Rinnung merklich von schweren Traktoren ausgefahren. Der Weg führte an
einem Grundstück entlang, dessen Hintergarten keinen Unterschied mehr
zwischen sich und dem Waldrand machte. Als es schließlich steil bergan und
mitten hinein in den Forst führte, ging dem Weg der Schotter aus. Das
regnerische Adventswetter hatte ihn aufgeweicht. Deshalb und der
vollkommenen Dunkelheit wegen wurden unsere Schritte unsicher. Der
spannendste Teil der Nachtwanderung lag vor uns.
Heruntergehend vom Kloster Scheyern hatten wir uns schon unterhalten. Meine
gruseligen Geschichten waren alle erzählt, doch den Jungen ließ der dunkle
Wald schaudern und er wünschte, die Unterhaltung über geeignete Themen
wieder aufzunehmen. „Wenn es auch nicht gruselig war, was hast du ansonsten
Schlimmes erlebt, als du jung warst?“
Viel konnte ich da nicht bieten. War mir ja zeitlebens gut ergangen.
„Am schlimmsten war es, als ich damals gleich nach dem Abitur obdachlos
war. In Paris.“
„Richtig obdachlos?“
„Ja. Auf der Straße.“
„Hast du unter der Brücke geschlafen?“ Die Stimme meines Sohnes ließ
erkennen, dass er daran durchaus Anziehendes fand.
„Nein, unter der Brücke nicht. Erst habe ich bei einem Bekannten auf der
Couch geschlafen und mich nur tagsüber in der Stadt herumgetrieben. Aber
dann wollte er nicht mehr, dass ich bei ihm übernachte. Da musste ich
draußen bleiben.“ – „Hast du auf der Parkbank geschlafen?“
„Genau. Zeitungen als Matratze. Zeitungen als Bettdecke.“
## Ein Ticket für den Schlafwagen nach München
„Warum bist du nicht heimgefahren?“ – „Ich wollte Oma und Opa nicht
eingestehen, dass mein Paris-Abenteuer gescheitert war. Ich dachte, dass
sich vielleicht was ergibt und ich doch bleiben könnte.“
„Ein Job?“
„Dachte ich. Irgendwas.“
„Und dann?“
„Nach einer Woche auf der Parkbank habe ich mir mit meinen letzten Francs
ein Ticket für den Schlafwagen nach München gekauft.“
„War der nicht teuer?“
„Ja schon. Aber weißt du, es war Mitte November, kalt und regnerisch. Als
ich mir eines Abends wieder was suchen musste, wo ich schlafen könnte, habe
ich es auf einmal nicht mehr ausgehalten. Auf der Stelle bin ich mit meinem
Koffer zum Gare de l’Est gefahren, das ist der Ostbahnhof von Paris, und
habe nach einem Zug Richtung München geschaut. Es waren aber schon alle
weg, nur noch der Nachtzug war da. Klar, ich hätte auch einen Sitzplatz
nehmen können, aber ich dachte mir: Wenn ich schon pleite bin, dann kann
ich das auch im Schlafwagen sein.“
Wir erreichten eine Gabelung und entschieden uns für links. Bald aber
verschwand hier der Weg und wir gingen mitten durchs Holz. Gelegentlich
streiften uns die Zweige kleiner Fichten. Doch zurückkehren und den anderen
Weg nehmen wollten wir nicht. Für einen Moment dachte ich darüber nach, ob
der Verzicht auf die Mitnahme einer Taschenlampe ein Fehler gewesen war.
Der Junge fürchtete sich.
„Was geschah dann im Schlafwagen?“
„Es war ganz herrlich. Der Schaffner war sehr nett und gab mir ein eigenes
Abteil, obwohl ich nur zweiter Klasse hatte. Du kannst dir nicht
vorstellen, wie sich das Bett angefühlt hat. Die frischen Laken, das
Kopfkissen. Das herrliche leise Rattern der Schienen. Am nächsten Morgen in
München, zum ersten Mal wieder richtig ausgeschlafen, war ich ein anderer
Mensch.“
„Bist du sicher, dass wir uns nicht verlaufen haben?“
„Ja, keine Sorge. Hier noch weiter den Berg rauf und dann müssten wir beim
Höflmair rauskommen. Pass nur auf, wo du hintrittst.“
„Was war dann?“
## Conducteur exceptionell, Sektion München
„Als mir der Schaffner, ein Franzose, nicht viel älter als ich, am Morgen
den Kaffee brachte, kamen wir ins Gespräch. Ich erzählte, dass ich einen
Job bräuchte, und er gab mir den Tipp, mich bei der Schlafwagengesellschaft
zu bewerben. So kam das. Ich zog die Uniform der Wagons-Lits an, der
Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft. Conducteur exceptionell, Sektion
München.“
„Und wo bist du gefahren?“
„Wir in München bedienten regulär drei Züge, den Neapolitaner, den
Florenzer und den nach Oostende. Aber man kam zwischendurch überall mal
hin, auch nach Paris ein paar Mal. Die Schlafwagen waren die Flaggschiffe
der Nachtzüge, und die gab es zwischen allen großen Städten in Europa.
Hunderte von Routen. Und manche echt alt. Oostende–Wien zum Beispiel, der
fuhr seit 1894, jeden Abend. Es gab manchmal sogar Speisewagen. Wenn die
Leute schliefen, konnte man sich dort mit den anderen Schaffnern treffen.
Die tollsten Leute aus allen möglichen Ländern habe ich da kennengelernt.“
„Sind auch schlimme Sachen passiert?“
„Es gab immer wieder Eisenbahnräuber. Zwischen Verona und Rom musste man
aufpassen, da waren Trickbetrüger unterwegs.“
„Haben die dich ausgeraubt?“
„Glücklicherweise nie.“
## Der sehnsüchtige Traum von einem freien Kontinent
Während wir uns die letzten Meter der Steigung hinaufkämpften, ließ ich die
Welt der Nachtzüge, wie sie Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
durchkreuzt hatten, wiedererstehen, eine imaginäre Merklin-Anlage, auf der
alles nachgebaut war. Die großen Bahnhöfe, an denen man voller Euphorie
ankam. Die kleinen Pensionen, in denen man tagsüber schlief. Das
unbeschreibliche Gefühl, der Letzte an einem mitternächtlichen Gleis zu
sein, das Versprechen unendlich zur Verfügung stehender Zeit und der
sehnsüchtige Traum von einem freien Kontinent, der wie an Perlschnüren
gereiht seine schönsten Städte darbot, Brüssel-Midi um kurz nach fünf,
Bologna-Centrale um sechs, Krakau-Glowny um halb sieben. Gaben der
Morgenröte. Europa.
„Toll, wenn man nachts nicht schläft, sondern Zug fährt. Meinst du, ich
kann später auch Schlafwagenschaffner werden?“
„Ich fürchte, daraus wird nichts. Die Schlafwagen sterben schon langsam
aus.“
„Wieso?“
„Früher waren Nachtzüge Ehrensache. Heute müssen die Eisenbahnen immerzu
sparen. Zu wenige Reisende. Die Leute fliegen. Scheint ihnen schneller und
billiger.“
Wir erreichten endlich das kleine Tal des vermuteten Einödhofs, und da wir
nun auf einem uns bekannten Pfad zwischen Wald und Wiesen liefen, der
Sternenhimmel zu sehen und es auch gar nicht mehr weit bis zu unserem
Wohnviertel war, atmeten wir beide leichter.
Mein Sohn begann von dem Zeltlager-Erlebnis vor drei Jahren zu berichten,
das er auf das Einwirken Außerirdischer zurückführt. Mir fiel auf, dass ihm
die Geschichte jedes Mal gruseliger gelang. Während ich mit Freude den
Wendungen der sagenhaften Untertasse über dem augusteischen Badeweiher
folgte, fragte ich mich, ob mein Sohn sich eines fernen Tages wohl auch
einmal als ein Veteran wiederfinden würde und ob der Wald dann noch da
wäre, um ihn des Nachts zu durchqueren und sich den Schauder mit alten
Geschichten zu vertreiben.
27 Dec 2014
## AUTOREN
Steffen Kopetzky
## TAGS
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