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# taz.de -- Filmstart „Die süße Gier“: Das Geld der Familie
> Der Regisseur Paolo Virzì erzählt in „Die süße Gier“ mit überzeichne…
> Figuren von der Zerstörung Italiens im Zeichen des Profits.
Bild: Zwischen Luxus, Leere und neuer Sinnstiftung: Carla Bernaschi (Valeria Br…
Übersetzungen können manchmal das Gegenteil dessen bewirken, was sie
eigentlich leisten sollen – vermitteln zwischen zwei Kulturen. Das gilt
auch für „Die süße Gier“, den elften Film des italienischen Regisseurs
Paolo Virzì, bei dem man nur hoffen kann, dass der deutsche Titel keine
allzu falschen Erwartungen weckt: Süß ist an dieser Geschichte um zwei
schicksalhaft verbundene Familien in Norditalien jedenfalls nichts. „Il
capitale umano“, wie der Titel im Original nüchtern lautet, passt da weit
besser zu Virzìs Anliegen, einen schneidenden Kommentar zur Lage seines
Landes zu liefern.
Das beginnt beim Personal. Wirklich identifizieren möchte man sich mit kaum
einer der Figuren, die in „Die süße Gier“ auftreten und aus deren
unterschiedlichen Perspektiven die verwickelten Ereignisse nach und nach in
einzelnen Kapiteln erzählt werden.
Den Anfang macht Dino Ossola (Fabrizio Bentivoglio), ein kleiner
Immobilienmakler, der gern ein bisschen aufsteigen möchte und es kaum
erwarten kann, die reichen Eltern von Massimiliano Bernaschi, dem Freund
seiner Tochter Serena, kennenzulernen. Als Dino eines Tages seine Tochter
dorthin fährt, macht Dino nicht nur die Bekanntschaft von Giovanni und
Carla Bernaschi, er darf auch gleich beim Tennisdoppel der anwesenden
Herren aushelfen und punktet mit sicherem Aufschlag.
Diesen sportlichen Vorteil nutzt Dino kurzentschlossen, um sein
eigentliches Anliegen vorzubringen: Er möchte sich in den Investmentfonds
von Giovanni Bernaschi (Fabrizio Gifuni) einkaufen, immerhin winken 30 bis
40 Prozent Rendite. Dass er dazu einen Kredit aufnehmen und der Bank sein
Haus als Sicherheit lassen muss, verschweigt er seinem neuen Freund lieber.
## Böse Überraschung
Auch Roberta (Valeria Golino), seiner schwangeren Lebensgefährtin, erzählt
Dino nichts vom riskanten Spekulationseinsatz. Die böse Überraschung kommt
ein halbes Jahr später, als die Kurse sich stark abweichend von den
Erwartungen entwickeln und der Fonds – das geborgte Vermögen Dinos
eingeschlossen – zu kollabieren droht.
Völlig anders gestalten sich die Dinge, zumindest vordergründig, aus der
Sicht von Carla Bernaschi (Valeria Bruni Tedeschi). Die ehemalige
Schauspielerin hat sich in ihrem Leben als reiche Gattin zwar irgendwie
eingerichtet, kommt mit der sie umgebenden Leere jedoch nicht zurecht.
Als sie bei einem ziellosen Luxuseinkaufsbummel am maroden Theater der
Stadt vorbeikommt und fassungslos ist, dass das Gebäude verkauft werden
soll – „Warum kommt die Kommune nicht dafür auf?“, so ihre naive Frage an
den Theaterdirektor –, beschließt sie, dem Schauspielhaus mit den Mitteln
ihres Mannes unter die Arme zu greifen und eine Stiftung zu gründen. Wenig
später gefährden die bevorstehenden Spekulationsverluste des Fonds auch
dieses Projekt und Carlas neu gefundenen Lebenssinn.
## Eine Schande für die Familie
Verbindendes Element dieser individuellen Krisen, die stellvertretend für
den derzeitigen Zerfall Italiens stehen, ist der zu Beginn des Films
geschilderte Fahrradunfall eines Kellners, der nachts auf der Landstraße
von einem Geländewagen erfasst und in den Straßengraben befördert wird,
ganz in der Nähe des Anwesens der Bernaschis. Schon bald verdächtigt die
Polizei den Sohn Massimiliano, der zum Zeitpunkt des Unfalls so betrunken
war, dass er sich an nichts erinnern kann. Massimiliano, der ohnehin schon
unter den Leistungserwartungen seines Vaters leidet, wird von diesem
daraufhin als Schande für die Familie fallengelassen.
Den tatsächlichen Verlauf des Abends erfährt man, wie bei der Auflösung
eines Krimis, erst im dritten Kapitel, in dem Serenas (Dinos Tochter)
Erlebnisse im Zentrum stehen. Wollte man dieser Episode gerecht werden,
würde man zu viele unerwartete Wendungen verraten. So viel nur: Auch wenn
die Geschichte einen komplexen Aufbau mit einer Reihe von aufeinander
verweisenden Details hat, wird in diesem Teil des Films der eine oder
andere Handlungsfaden eine Spur zu eindeutig aufgelöst.
## Elegantes Mosaik
„Die süße Gier“ hat andererseits eine harte Botschaft, die Virzì seinem
Publikum – formal zugleich sehr elegant durch den mosaikartigen
Erzählansatz gelöst – eben einigermaßen nachvollziehbar vermitteln will.
Dabei konzentriert er sich auf die Zeichnung, mitunter Überzeichnung,
seiner Figuren, für die er einiges an Schauspielprominenz aufbietet: So
lässt Valeria Bruni Tedeschi die frustrierte Carla virtuos zwischen
apathischer Ungeschicktheit und zaghaft aufloderndem Begehren schwanken.
Fabrizio Bentivoglio verleiht dem opportunistischen Immobilienmakler Dino
mit seinem ergrauten Soul-Patch-Unterlippenbart eine schmierige
Aufdringlichkeit, die beim Zuschauer tatsächlich körperliches Unbehagen
hervorruft und einen schönen Kontrast bildet zur eisernen Glätte des
neoliberalen Übermanagers Giovanni, den Fabrizio Gifuni mit
minimal-reservierten Gesten Fleisch werden lässt.
„Die süße Gier“ kommt wie ein durch und durch italienischer Stoff daher.
Vorlage für das Drehbuch war allerdings der Bestsellerroman „Human Capital“
des US-amerikanischen Schriftstellers Stephen Amidon, auf Deutsch unter
Titel „Der Sündenfall“ erschienen (noch so ein Fall von missglückter
Übersetzung). Der Transfer von Amidons Gesellschaftskritik an den USA nach
Italien ist gut gelungen. Virzì verlegt die Handlung von der Vorortidylle
Connecticuts in die wohlhabende Region Brianza im Norden von Mailand.
Obwohl das Buch schon 2004 veröffentlicht wurde, passt es beängstigend gut
in das kaputte Italien der Gegenwart: Giovanni setzt mit seinem Fonds unter
anderem darauf, dass in seinem Land „alles zusammenbricht“.
## Proteste der Lega Nord
Zusammen mit der eisigen Winterlandschaft Brianzas, in der sich der
Großteil der Geschehnisse abspielt, hat das Setting sogar so gut gepasst,
dass der Film, als er im vergangenen Jahr in die italienischen Kinos kam,
wütende Proteste auf Twitter auslöste. Die für ihren Reichtum bekannte
Region Brianza sei zu klischeehaft dargestellt worden, lautete die Kritik.
Und auch Andrea Monti, der der Lega Nord angehörende Referent für Tourismus
und Sport der Provinz Monza und Brianza, warf Virzì vor, den Bewohnern
seiner Provinz eine „Ohrfeige“ verpasst zu haben. Virzì scheint da an einem
wunden Punkt gerührt zu haben.
Während Paolo Sorrentino in seinem Film „La grande bellezza“ von 2013 ein
im Stillstand vor sich hinsiechendes Italien in Szene setzte – immerhin mit
Rom als dankbarer Kulisse –, lässt Virzì seinen Zuschauern wenig Trost.
„Die süße Gier“ ist ergreifende Tragödie und eine illusionslose Zeitkrit…
ohne große Versöhnungsangebote. Lediglich am Schluss setzt er ein kleines
optimistisches Zeichen.
Ansonsten überwiegt die Zerstörung im Zeichen des vermeintlichen Profits.
Für diese Zerstörung steht, als Opfer, auch der verunglückte Radfahrer,
dessen Schicksal den Begriff „Humankapital“ erfordert. Doch nicht etwa als
profitbringendes Wissen verstanden, sondern als Summe aus Lebenserwartung,
Verdienstmöglichkeiten und den emotionalen Bindungen, aus denen sich ein zu
zahlender Schadenersatz berechnet.
8 Jan 2015
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Italien
Film
Spekulation
Spielfilm
Filmregisseur
Festival
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