# taz.de -- Debatte Syrien: Es gibt eine Chance | |
> „Friedensstrategien“ sind für die neuen Verhandlungen ein zu großes Wor… | |
> Aber immerhin gibt es neue Ideen, die das Leid lindern könnten. | |
Bild: Der syrische Machthaber Baschar al-Assad wird sich nicht halten können. | |
Drei Entwicklungen laufen parallel. Erstens versucht Russland, Vertreter | |
von Regime und Opposition in Moskau an einen Tisch zu bringen. Zweitens | |
diskutieren die wichtigsten Oppositionsgruppen einen Fahrplan zum | |
schrittweisen Machtwechsel in Damaskus. | |
Und drittens wirbt der UN-Sonderbeauftragte für Syrien Staffan de Mistura | |
dafür, den Konflikt lokal einzufrieren, um den Vormarsch des Islamischen | |
Staats (IS) zu stoppen. Das ist nicht originell, eröffnet aber Chancen. | |
Eine davon liegt in Moskau – wenn die Konferenz scheitert. Im Moment sind | |
Gespräche zwischen Regime und Opposition Zeitverschwendung. Präsident | |
Baschar al-Assad weigert sich, Macht abzugeben, und kein ernst zu nehmender | |
Oppositioneller ist bereit, unter Assads Führung mitzuregieren (wie der | |
Kreml das gern hätte). Außerdem haben beide Seiten nur begrenzten Einfluss | |
auf den Krieg in Syrien. | |
Dem Regime gehen inzwischen Geld und Soldaten aus. Abgesehen von wenigen | |
Eliteeinheiten, die dem Präsidenten direkt unterstehen, existiert die | |
Syrisch-Arabische Armee nicht mehr. Die verbliebenen Truppen werden vom | |
Iran gesteuert, daneben kämpfen die libanesische Hisbollah und die National | |
Defense Forces (NDF) – lokale Milizen, die sich aus den Shabiha und | |
konfessionell organisierten Bürgerwehren entwickelt haben. | |
## Die Allmacht bröckelt | |
Ihre Anführer sind durch die Verteidigung bestimmter Gebiete und Einnahmen | |
aus Schmuggel, Schutzgelderpressung und Entführungen teils so mächtig | |
geworden, dass sie unliebsame Befehle aus Damaskus schlicht ignorieren. | |
Assads Allmacht bröckelt. Genau darin liegt die Chance. Denn manch | |
Oppositioneller, der in den vergangenen Wochen nach Moskau reiste, | |
versuchte das den Kreml-Vertretern klarzumachen: Assad kann Syrien nicht | |
befrieden, weil er nicht mehr „in control“, sondern abhängig von anderen | |
ist. | |
Die Tatsache, dass er einige Gebiete halten und andere zurückerobern kann, | |
hat er seinen ausländischen Unterstützern zu verdanken, nicht seinem | |
Rückhalt im Land. Selbst viele Alawiten sind es leid, ihre Söhne für Assads | |
Machterhalt zu opfern – wer freiwillig kämpft, tut das nur noch, um in | |
Lattakia und Tartous die eigenen Leute zu beschützen, aber nicht, um Raqqa | |
vom IS zurückzuerobern. | |
Der Versuch Moskaus, die Opposition zu spalten, wird hoffentlich scheitern. | |
Noch ringen die drei wichtigsten Gruppen – die Nationale Koalition der | |
Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, das Nationale | |
Koordinierungskomitee für demokratischen Wandel und die Bewegung Building | |
the Syrian State – um einen gemeinsamen Plan. Sie sind sich jedoch einig, | |
dass Assads Rückzug keine Vorbedingung für Gespräche sein kann, sehr wohl | |
aber die logische Konsequenz eines politischen Übergangs sein muss. | |
Es ist deshalb an Moskau, einzusehen, dass der syrische Staat nicht mit | |
Assad gerettet werden kann. Im Gegenteil. Wer in Syrien staatliche | |
Strukturen erhalten will, muss sich für eine schrittweise Umverteilung von | |
Macht einsetzen, und zwar nicht im Großen, sondern im Kleinen. | |
## Die UN lernen langsam dazu | |
Womit wir beim dritten Thema wären, dem Einfrieren der Kämpfe und den | |
Erfahrungen mit lokalen Waffenstillständen. Staffan de Mistura hat erkannt, | |
dass eine Gesamtlösung des Konflikts zurzeit unrealistisch ist. Und dass er | |
als UN-Sondergesandter etwas tun muss angesichts von 250.000 Toten, 3 | |
Millionen Flüchtlingen und 7 Millionen Vertriebenen. | |
Seine Idee, zunächst in Aleppo die Kämpfe einzufrieren, klingt gut – ein | |
Alltag ohne Fassbomben und Scharfschützen wäre für die Bewohner eine große | |
Erleichterung. Allerdings erscheint eine dauerhafte Feuerpause | |
unrealistisch, solange aus den Erfahrungen bisheriger Waffenstillstände | |
nichts gelernt wird. Zum Verständnis. In Syrien gibt es landesweit Dutzende | |
von lokalen Initiativen, bei denen zivile Akteure, Rebellen, | |
Regimevertreter, Armee und die genannten NDF Waffenruhen aushandeln. | |
Doch erstens werden die meisten Waffenstillstände vom Regime durch | |
Abriegeln, Aushungern und massives Bombardieren eines Gebietes erzwungen. | |
Zweitens setzt das Regime häufig Bedingungen durch, die für lokale | |
Oppositions- und Rebellengruppen einer Kapitulation gleichkommen. Drittens | |
wird die Umsetzung von keiner unabhängigen Instanz überwacht, so dass | |
Vereinbarungen nicht erfüllt oder gebrochen werden (zu wenig humanitäre | |
Hilfe, unvollständige Evakuierung von Zivilisten, nachträgliche Verhaftung | |
oder Erschießung von Rebellen, erneute Abriegelung). | |
Viertens verhindern oder unterwandern auf beiden Seiten radikale Gruppen | |
oder regionale Unterstützer (Iran, Türkei) einen Einigungsprozess, wenn | |
dieser eigene Interessen gefährdet. Fünftens nutzen die kriegführenden | |
Parteien die Feuerpause oft nur dazu, sich für weitere Kämpfe zu rüsten. | |
Allen fehlt der Wille zum Frieden. | |
## Der lokale Ansatz stimmt | |
Dennoch ist der lokale Ansatz richtig. Denn die Bereitschaft, mit dem Feind | |
zu verhandeln und Kompromisse zu schließen, ist bei den kriegsmüden | |
Menschen vor Ort deutlich größer als bei Politikern und Kommandeuren, die | |
weit weg vom Geschehen Maximalforderungen stellen und den Konflikt damit | |
verlängern. Außerdem sind die Lebensbedingungen, die gesellschaftliche | |
Zusammensetzung, die politischen wie militärischen Machtverhältnisse in | |
Syrien regional so unterschiedlich, dass es keine allgemeingültige Lösung | |
geben kann. | |
Von oben verordnete Patentrezepte laufen ins Leere, stattdessen sollten | |
zivile Akteure vor Ort – lokale Komitees, Stadt- und Gemeinderäte, | |
religiöse Würdenträger, einflussreiche Geschäftsleute, Dorfälteste und | |
Stammesführer – gestärkt werden. Denn Waffenstillstände kommen vor allem | |
dort zustande, wo es ausgeprägte zivile Strukturen gibt. | |
Die Vision, die sich daraus ergibt, sieht so aus. Ein Waffenstillstand wird | |
lokal ausgehandelt, aber von einer neutralen Instanz mit einem robusten | |
Mandat des UN-Sicherheitsrats durchgesetzt und überwacht. Diese | |
kontrolliert und finanziert auch die Funktionsfähigkeit von Verwaltung und | |
Infrastruktur. | |
Bürgerämter, Gerichte, Polizei, Umspannwerke und Wasserbehörden arbeiten | |
weiter oder werden wiederaufgebaut. Ziel ist es, staatliche Strukturen zu | |
erhalten, ohne dass diese vom Assad-Regime vereinnahmt werden. So erwächst | |
aus einem Waffenstillstand eine glaubwürdige politische Alternative mit | |
einem funktionierenden Alltag und der Botschaft: Verhandlungen lohnen sich! | |
## Die Dynamik nicht missverstehen | |
Wenn de Mistura aber nur Kämpfe einfrieren will, um gemeinsam gegen den IS | |
vorzugehen, hat er die Dynamik der letzten Monate nicht verstanden. Den | |
Terror der Dschihadisten zu bekämpfen und dabei den Terror Assads zu | |
ignorieren, radikalisiert die Syrer – Zivilisten wie Rebellen – nur weiter | |
(im Dezember tötete das Regime 1.049 Zivilisten, der IS 72). | |
Lokale Waffenstillstände bieten die Chance, in kleinen Schritten neue | |
Machtverhältnisse zu schaffen. De Mistura sollte alles daransetzen, ein | |
UN-Mandat für die Unterstützung dieser Feuerpausen zu bekommen – mit | |
Russlands Stimme. | |
29 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Kristin Helberg | |
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