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# taz.de -- Die Wahrheit: Zärtliches Hindukuscheln
> Die Völkerverständigung bringt zwei starke Partnerstädte aus Afghanistan
> und Deutschland zusammen: Bargfeld und Kabul.
Bild: Typische Straßenszene aus Bargfeld: Ein Arno-Schmidt-Jünger trägt eine…
Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine amour fou, wenn nicht gar wie eine
amour dangereuse, die jüngst begründete Städtepartnerschaft zwischen dem
stillen Heidedorf Bargfeld und Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Während
Bargfeld vornehmlich als Wohnort des öffentlichkeitsscheuen Schriftstellers
Arno Schmidt bekannt geworden ist, steht Kabul als Bürgerkriegsschauplatz
im Rampenlicht des Weltinteresses.
Auch die Einwohnerzahlen und die Medienkonsumdaten weichen stark
voneinander ab: Rund zweihundert Bargfeldern stehen mehr als drei Millionen
Kabuler gegenüber, von denen nur jeder vierzigste einen eigenen Fernseher
besitzt. In Bargfeld hingegen kommen 4,6 Fernsehgeräte auf 1,7 Einwohner;
Tendenz steigend. Noch stärker differieren die Vorlieben in musikalischer
Hinsicht: In Bargfeld schätzen mehr als 62,4 Prozent der Bevölkerung Helene
Fischer, Florian Silbereisen und den Teufelsgeiger André Rieu – drei
Künstler, für deren Schaffen es in der traditionell amusischen Metropole am
Khyber-Pass kein Äquivalent gibt.
Widersprüche genug. Wie konnte es trotzdem zu dieser ungewöhnlichen
deutsch-afghanischen Liaison kommen?
Nach dem dritten Grappa packt Rolf Gerharz, der Sprecher des
Niedersächsischen Vereins für Brauchtumspflege, allmählich aus: Es sei
nicht so, dass man in Bargfeld freiwillig auf das Angebot aus Kabul
reagiert habe. „Ich will Ihnen die Wahrheit sagen – da stecken
multinationale Konzerne dahinter, die eine Pipeline vom Hindukusch in die
Südheide bauen wollen, und die haben den Dorfvätern ein Angebot gemacht,
das man nicht ablehnen kann …“
## Lesefestival unter Polizeischutz
Sage und schreibe 60 Milliarden Barrel Rohöl sollen ab Februar 2016 täglich
von Kabul nach Bargfeld fließen und dort in einer hochmodernen
Ansaugstation in umweltfreundliches Biogas umgearbeitet werden. In der
notorisch strukturschwachen Südheide dürften dadurch voraussichtlich 16.000
neue Arbeitsplätze entstehen, und darüber hinaus winken EU-Fördermittel in
Höhe von 1,3 Milliarden Petrodollar.
Im Gegenzug wollen die an dem Deal beteiligten Energiekonzerne in Kabul ein
„Lesefestival“ organisieren, um die Afghanen an die Werke Arno Schmidts
heranzuführen. Als Auftaktveranstaltung ist eine szenische Lesung aus
seinen Essays geplant, die einen programmatischen Titel trägt: „Atheist?
Allerdings!!“
„Dafür müssen wir natürlich Polizeischutz beantragen“, sagt Heinz
Terlinden, der Geschäftsführer der Eldinger Oil Exploitation Company
(EOEC), ohne deren finanzielle Unterstützung das Festival gar nicht
stattfinden könnte. „Aber das ist hier so üblich. Letztes Jahr hatten wir
eine Lyrikerin aus Nigeria zu Gast, die ohne Kopftuch auftrat und ein
Gedicht vortrug, in dem das Wort ’Unterlippe‘ vorkam. Sie können sich nicht
vorstellen, was daraufhin los war! Diesmal gehen wir auf Nummer sicher. Wir
haben beim Goethe-Institut drei Vortragskünstler bestellt, die nachweislich
eine stark einschläfernde Wirkung auf das Publikum ausüben, und man hat uns
Günter Grass, Herta Müller und Durs Grünbein empfohlen. Darüber wird jetzt
mit den Verlagen und den Lesungsagenten verhandelt. Wir rechnen mit
ungefähr elf bis zwölf Zuhörern aus der Community der deutschen
Einwanderer. Für alle Fälle haben wir fünf zusätzliche Sitzkissen in
Reserve.“
## Mohnanbau um Bargfeld
Der kulturelle Austausch geht jedoch noch weiter: Im Schankraum des
Bargfelder Gasthauses Bangemann soll im April eine Ausstellung afghanischer
Kautabakpfrieme eröffnet werden, in die der Objektkünstler Günther Uecker
vor laufenden Kameras insgesamt 16 jeweils drei Zoll lange Messingnägel
hineinhämmern wird. Und wenn das Rauschgiftdezernat der Kriminalpolizei
Hannover der Völkerverständigung zuliebe ein Auge „zudrücken“ sollte, da…
auf den Äckern rings um Bargfeld demnächst auch Mohn angebaut werden.
„Eine Hand wäscht die andere“, erklärt wiederum Brauchtumspfleger Rolf
Gerharz, und ein wissendes Lächeln umspielt seine Lippen. „Wenn wir hier
mit dem Know-how afghanischer Berater in den internationalen Opiumhandel
einsteigen und wenn dann auch noch der Ölboom kommt, wird Bargfeld rascher
expandieren als Neu-Delhi oder Mexiko-City. Der ursprüngliche Charakter des
Dorfs soll selbstverständlich erhalten bleiben, schon aus
Denkmalschutzgründen, aber so in drei, vier Jahren werden Sie die alte
Skyline Bargfelds nicht mehr wiedererkennen, das kann ich Ihnen versprechen
…“
Sehr viel mehr muss nicht geschehen, damit Arno Schmidt sich im Grabe
umdreht.
20 Feb 2015
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
Kabul
Arno Schmidt
Krieg
Lauenburg
Whistleblower
Staatsakt
Islam
Begegnungen
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