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# taz.de -- Die Wahrheit: Des Wichtels Zweifel
> Nach dem Eklat um den ESC-Verweigerer Andreas Kümmert ist das Abendland
> durch den sich ausbreitenden Defätismus hochgradig gefährdet
Bild: Löste einen Tsunami aus: der verhinderte Barde Andreas Kümmert.
Der kleine Rupert ziert sich etwas. Gerade hat der Bad Godesberger
Kinderpsychologe und Motivationscoach Dr. Heiner Schirch dem Dreijährigen
auf spielerische Weise auseinandergesetzt, wie traurig die globalisierten
Märkte wären, wenn er die einmalige Chance nicht ergreift, die ihm hier
geboten wird, da hat das Kind seine Milchzähne schon in die Hand
geschlagen, die sich hilfreich ihm entgegenreckte.
Der leidenschaftliche Kinderflüsterer reagiert hochprofessionell und
verwickelt das unbotmäßige Kind in ein lustiges Rollenspiel. Es heißt
„Rupert kommt ins Heim“ und soll zum Mitmachen und Nachdenken anregen.
Eigentlich müsste der kleine Rupert längst im Toddler-Seminar für
ergebnisorientierte Persönlichkeitsoptimierung sitzen, das neben
Hochgeschwindigkeitsmandarin und Wirtschaftsyoga derzeit als Nonplusultra
frühkindlicher Förderung gilt. Doch in grotesker Verkennung des globalen
Wettbewerbs hat sich das verstockte Kind im Beobachtungszimmer verschanzt
und kritzelt mit Wachsmalstiften auf dem Flipchart herum.
Während sich Dr. Schirch mit aller Wucht eines entfesselten Marktes gegen
die versperrte Tür wirft, sieht man den Dreijährigen Vanitas-Motive
hinschmieren, die allesamt von der Vergeblichkeit menschlichen Strebens
künden: eine Sanduhr, einen Schädel und einen brüllenden Kinderpsychologen.
„Diese Verweigerungshaltung ist Ausdruck einer bedenklichen
gesellschaftlichen Entwicklung“, meint Dr. Schirch. „Die Kinder machen
nach, was ihnen von zweifelhaften Vorbildern vorgelebt wird.“
Schon seit Jahren warnt Schirch vor einer bislang kaum beachteten
Abendlandgefährdung. Der Fachmann für pränatale Assessmentstrategien sieht
„Die dunkle Gefahr des Defätismus“ aufziehen, so der Titel einer
Denkschrift, die der Psychologe gerade in zweistelliger Millionenauflage
auf den Markt geworfen hat.
„Unsere Zivilisation beruht auf dem Prinzip institutionalisierter
Selbstüberschätzung“, glaubt Dr. Schirch. „Gerade Finanzwirtschaft und
Politik sind hochgradig von Entscheidern abhängig, die in der Lage sein
müssen, eigene Beschränkungen vollkommen auszublenden. Wenn sich aber jetzt
schon Entertainer öffentlich in kritische Selbstreflexionen stürzen, können
wir den Laden bald dichtmachen.“
Nach dem Eklat um ESC-Verweigerungswichtel Andreas Kümmert sieht Schirch
seine schlimmsten Befürchtungen erfüllt. „Solche Leute sind eine Gefahr für
die Gesellschaft“, urteilt der Psychologe über den Sänger, der am
vergangenen Donnerstag den deutschen Eurovisions-Vorentscheid zwar klar
gewonnen hatte, die Einladung zum Grand Prix aber wegen akuter
Selbstzweifel ausschlug.
Er sei in keiner Verfassung, die Wahl anzunehmen, hatte der ehemalige
„Voice of Germany“-Gewinner bekannt und seine existenzielle Überforderung
in den Satz „Ich bin ein kleiner Sänger“ gekleidet, der in seiner
schlichten Wahrhaftigkeit die Moderatorin Barbara Schöneberger zu Tränen
rührte, denn Andreas Kümmert ist tatsächlich winzig.
## Ein verhängnisvoller Trend
Mit seiner spektakulären Selbsterkenntnis hat Kümmert einen
verhängnisvollen Trend gesetzt. Schon am Tag darauf kündigten zahlreiche
Fans gut dotierte Stellungen, um zusammen mit dem Barden in die Wildnis zu
ziehen und dort in härenen Gewändern über die Nichtigkeit ihres Daseins zu
meditieren. Am Montag mussten sämtliche Schulen in Kümmerts fränkischer
Heimat schließen, da sich die Schüler in keiner Verfassung sahen, am
Unterricht teilzunehmen. „Eitel Tand ist alles Menschenwerk, besonders
Mathe und Physik“, hieß es in einer Stellungnahme der Schülerschaft.
Auch das politische Berlin scheint mittlerweile vom defätistischen Virus
infiziert, am Dienstag soll Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel
tränenüberströmt ausgerufen haben: „Ich bin nur ein kleiner Politiker. So
einer wie ich wird doch nie im Leben Kanzler.“ Und sogar die Kanzlerin, die
sich ihre Alternativlosigkeit erst kürzlich wieder frisch in die
Gesichtszüge hatte fräsen lassen, soll für einen kurzen Moment so etwas wie
Zweifel oder zumindest Anteilnahme an den Geschicken der Sterblichen
gezeigt haben.
Wie gut, dass sich wenigstens Dr. Heiner Schirch der Erosion des
Omnipotenzgedankens unerschrocken entgegenstellt. „Unsere Zivilisation muss
vor ihrem eigenen Kleinmut gerettet werden. Notfalls erledige ich das im
Alleingang“, stellt er beherzt klar.
Beim kleinen Rupert ist dem hartgesottenen Motivator immerhin ein zartes
Wunder gelungen. Statt sich in haltlosen Grübeleien zu ergehen, paukt
Rupert jetzt wenigstens Businessenglisch. Bislang sagt das verstockte Kind
allerdings bloß immerzu „I would prefer not to.“
11 Mar 2015
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Schwerpunkt Eurovision Song Contest
Schwerpunkt Finanzkrise
Waffen
Fernsehen
Finanzen
Währung
Wohnungsmarkt
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