# taz.de -- Überwachungsexperiment in Berlin: Gemeine Verunsicherung | |
> Eine Schnitzeljagd zu den Mechanismen der Angst und Paranoia: Die | |
> "yoUturn"-Tour macht den Teilnehmer zum Überwachungsopfer. Und zuletzt | |
> gefügig. | |
Bild: Und schon wieder eine Kamera: Ist sie wirklich nur aus Pappe? | |
Langsam ist es doch ganz schön kalt, hier in einer namenlosen Parkanlage | |
irgendwo im Wedding um acht Uhr abends. Ich schicke mich gerade an, mit | |
Hilfe einer Taschenlampe den Zettel zu lesen, der für mich an das Schild am | |
Ausgang des kleinen Parks an der Seestraße geklebt wurde. Da schießt | |
plötzlich aus der nächtlichen Finsternis der Mann, der mir schon auf dem | |
U-Bahnhof aufgefallen war, auf mich zu. Er packt mich am Oberarm und führt | |
mich wortlos ab. An der nächsten Ecke wartet ein geöffnetes Schiebetor nur | |
darauf, uns zu verschlucken. Ich werde hineingezerrt. Das Tor schließt sich | |
leise hinter uns. Und niemand weiß, wo ich gerade bin. | |
Ich selbst übrigens auch nicht. Den Wedding kenne ich ungefähr so gut wie | |
Klein-Wülferode Ost, nämlich kein bisschen. Später erfahre ich, dass ich in | |
ein ehemaliges Krematorium verschleppt wurde. Aber man könnte mich in dem | |
Augenblick wohl auch in einer unterirdischen Zelle einschließen, | |
zusammenschlagen und in einer Pfütze meines eigenen Blutes liegen lassen – | |
ohne dass jemand etwas davon erfahren würde. Zum ersten Mal an diesem Abend | |
bekomme ich ein richtig mulmiges Gefühl im Magen. | |
Mein Entführer schleppt mich eine schmale Eisentreppe hinab in eine kahle | |
Halle von der Größe einer U-Bahn-Station. In den Ecken stehen Kartons mit | |
geschreddertem Papier. Ich werde auf einen Hocker gedrückt. Mir gegenüber | |
steht ein Schreibtisch, dessen Lampe mich blendet. Mein Entführer setzt | |
sich hinter den Schreibtisch, schiebt einige Papier zurecht, eine | |
Tonaufzeichnung wird gestartet, und ich bin wieder im Theater. | |
## Fremd in der eigenen Stadt | |
Denn natürlich habe ich mich nie tatsächlich in der Gefahr befunden, | |
Mitglied der Armee der Verschwundenen zu werden, die eines Tages in ein | |
Auto mit geschwärzten Scheiben oder einen Seiteneingang gezerrt wurden und | |
nie wieder auftauchten. Der Abstecher in die Berliner Unterwelt ist | |
vielmehr für mich das Finale des Theaterexperiments „yoUturn“, das | |
Christiane Mudra jetzt schon zum zweiten Mal in Berlin inszeniert. Bei | |
einem Rundgang durch die eigene Stadt sollen dem Publikum „die Mechanismen | |
von Angst und Paranoia“ erfahrbar gemacht werden – denn „Überwachung kann | |
man nicht sehen“. Und wer an der Tour teilnimmt, dem mag die eigene Stadt | |
plötzlich wirklich so fremd und unheimlich vorkommen, als hätte man sich in | |
einer von E. T. A. Hoffmanns Berliner Novellen verirrt. | |
Dabei beginnt alles wie eine gut organisierte Schnitzeljagd für Erwachsene. | |
An meinem Treffpunkt in der Nähe des Hamburger Bahnhofs hängt eine weiße | |
Plastiktüte mit einer Grundausstattung für die Tour: eine Taschenlampe, | |
einige Zettel und Instruktionen, wo ich die nächsten Hinweise | |
entgegenzunehmen habe. Das erfahre ich von einer herrischen Männerstimme, | |
die mich auf meinem Handy anruft, als ich gerade ankomme. Diese Anrufe von | |
wechselnden, zum Teil verzerrten Stimmen – natürlich immer von einer | |
„unterdrückten Nummer“ – werden mich die nächsten zwei Stunden durch die | |
Stadt begleiten. | |
Zur selben Zeit starten, wie ich später erfahre, auch zwei andere Besucher | |
von „yoUturn“ ihren Marsch durch ein eigens für sie inszeniertes | |
Überwachungsszenario und werden dabei – wie ich, ohne es zu merken – von | |
einem Schauspieler beschattet. Während die anderen Performance-Touren durch | |
östliche Stadtbezirke vorbei an einschlägigen Wirkungsorten der Stasi | |
führen, marschiere ich durch ein zunehmend dunkler werdendes urbanes | |
Hinterland unweit des Neubaus des Bundesnachrichtendienstes. | |
Dabei finde ich an Zäunen, Briefkästen und Friedhofstoren immer wieder | |
Umschläge und Mappen voller Dokumente, die mich einerseits weiter | |
dirigieren und mich andererseits darüber informieren, wie Staaten ihre | |
Bürger durch Überwachen und Strafen zurichten. In dem Gebäude an der | |
Invalidenstraße, das heute das Wirtschaftsministerium beherbergt, so | |
erfährt man, war nach dem Zweiten Weltkrieg die Generalstaatsanwaltschaft | |
der DDR. Ich finde Auszüge aus Dossiers, die die Stasi über Punks und | |
andere „innere Feinde“ angelegt hatte, es gibt den erschütternden Bericht | |
einer Marokkanerin zu lesen, die bei der Reise nach Israel ohne Grund | |
stundenlang nackt in einer Untersuchungszelle festgehalten wurde. Sogar die | |
millionenteure Überschwemmung, die unlängst einige abmontierte Armaturen im | |
angeblich top-sicheren BND-Neubau verursacht haben, kommt vor. | |
In der Abenddämmerung irre ich durch eine Gegend zwischen Schifffahrtskanal | |
und Chausseestraße, die für mich bisher Terra incognita war. Im abnehmenden | |
Licht jagt mir nicht nur der Typ mit der Wollmütze, der plötzlich wie aus | |
dem Boden gewachsen vor mir steht und mir einen MP3-Player in die Hand | |
drückt, einen Heidenschreck ein. Generell wirken andere Passanten zunehmend | |
verunsichernd. Sind das wirklich zwei Berliner Hausfrauen, die mit dem Hund | |
mit dem absurd leuchtenden Halsband Gassi gehen? Und ist der Mann mit | |
seinem Fahrrad nicht gerade verdächtig nah an mir vorbeigefahren? | |
Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seinem Buch „Überwachen | |
und Strafen“ gezeigt, dass man einen Menschen gar nicht ununterbrochen | |
bespitzeln muss, um ihn zuzurichten und zu disziplinieren. Es genügt, dass | |
man jederzeit beobachtet werden kann, und schon beginnt das Subjekt der | |
Überwachung sein Verhalten den vermuteten Erwartungen seiner Häscher | |
anzupassen. Auch Josef K. wird in Kafkas „Prozess“ peu à peu durch die | |
Ungewissheit darüber, was ihm eigentlich vorgeworfen wird, so zermürbt, | |
dass er sich zuletzt widerstandslos von seinen Henkern abführen lässt. So | |
wie auch ich mich am Ende der „yoUturn“-Tour in unterirdische Katakomben | |
abführen lasse, verbunden mit meinem Verfolger in einer – wie es bei Kafka | |
heißt – „Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann“. | |
Das ist freilich noch die old school der geheimdienstlichen Arbeit mit auf | |
einen persönlich angesetzten Spitzeln, nicht das lautlose und automatische | |
Funktionieren der Algorithmen flächendeckender Totalüberwachung, wie sie | |
NSA, Facebook und Google praktizieren. | |
Wie effektiv die ist, zeigt ein Dossier über mich selbst, das mir am Ende | |
der Vorstellung ausgehändigt wird. Es enthält meine Adresse, alle meine | |
E-Mail-Adressen, eine Analyse meiner Twitter-Kontakte (zu denen „auffällig | |
viele staatsfeindliche Subjekte“ gehören), die Information, dass ich | |
offenbar meine E-Mails nicht verschlüssele. Und dieses verflixte | |
Familienbild, das ich einfach nicht aus dem Internet kriege, obwohl ich es | |
schon seit Jahren versuche. | |
22 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
## TAGS | |
Performance | |
Schwerpunkt Überwachung | |
Berlin | |
Experiment | |
Schwerpunkt Facebook | |
Datenschutz | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Algorithmen im Internet: „Die Maschinen entscheiden für uns“ | |
Sie regulieren immer mehr Bereiche unseres Lebens – ohne dass wir | |
verstehen, was genau Algorithmen tun. Nicht gut, sagt Techniksoziologin | |
Zeynep Tufekci. | |
Kommentar Klage gegen Facebook: Mehr Mut zum Umbequemen | |
Ein einzelner Nutzer kann Facebook in die Bredouille bringen. Was könnte | |
erst ein Staat, Deutschland zum Beispiel, tun. | |
Wasserschaden im BND-Neubau: Gezielter Anschlag? | |
Laut Medienbericht wurde der Wasserschaden im BND-Neubau in Berlin | |
vorsätzlich herbeigefühhrt. Die Regierung fürchtet zudem weiter | |
Bauverzögerungen. |