| # taz.de -- Tagung zur Verdachtsberichterstattung: Was tun mit den Betroffenen? | |
| > Auf Einladung von „Netzwerk Recherche" wurde über die Tücken der | |
| > Verdachtsberichterstattung diskutiert. Diese ist zunehmend Gegenstand von | |
| > Prozessen. | |
| Bild: Im Januar 2012 war die Tagespresse voll mit Annahmen über den damaligen … | |
| Jörg Kachelmann: freigesprochen, Christian Wulff: freigesprochen, Sebastian | |
| Edathy, Verfahren gegen Geldauflage eingestellt. Mehrere Promiprozesse | |
| endeten in den letzten Jahren ohne Verurteilung. Aber in allen Fällen hat | |
| der Ruf der Betroffenen massiv gelitten. Denn natürlich berichten Medien | |
| schon über die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren. Wie dabei | |
| Persönlichkeitsrecht und öffentliches Interesse zum Ausgleich gebracht | |
| werden können, damit befasste sich am Wochenende eine Tagung von „Netzwerk | |
| Recherche“ in Leipzig. | |
| Das Problem spielt in der journalistischen Praxis eine zunehmende Rolle, | |
| weil sich betroffene Prominente inzwischen routinemäßig nicht nur einen | |
| Strafverteidiger suchen, sondern auch einen Medienanwalt beauftragen. | |
| Dieser soll sichern, dass sich Journalisten an die Regeln der sogenannten | |
| Verdachtsberichterstattung halten. Diese Regeln gelten nicht nur bei | |
| laufenden Strafprozessen, sondern immer, wenn eine nachteilige | |
| journalistische Aussage noch nicht beweisbar ist. | |
| Die Verdachtsberichterstattung ist unter vier Bedingungen zulässig: Erstens | |
| muss es sich um eine schwere Verfehlung handeln, das Thema muss also | |
| wirklich relevant sein. Zweitens muss an dem Verdacht etwas dran sein, | |
| Spekulationen ins Blaue hinein sind nicht zulässig. Drittens darf keine | |
| Vorverurteilung stattfinden, es muss deutlich werden, dass es sich um | |
| Vorwürfe handelt, der Betroffene aber noch nicht verurteilt ist. Viertens | |
| muss sorgfältig recherchiert werden, insbesondere muss der Betroffenen | |
| Gelegenheit erhalten, seine eigene Sicht zu schildern. | |
| Die Regeln sind anspruchsvoll, weil mit ihnen ein Privileg verbunden ist. | |
| Verdachtsberichte gelten selbst dann als rechtmäßig, wenn sich später | |
| herausstellt, dass der Verdacht falsch war. Journalisten müssen ihre | |
| früheren Artikel dann nicht widerrufen und auch keinen Schadenersatz | |
| bezahlen. | |
| Christian Mensching, einer von Wulffs Anwälten, warb in Leipzig bei den | |
| Journalisten um Verständnis: „Sehen Sie diese Regeln nicht als Zwangsjacke! | |
| Sie schützen auch vor Fehlern, lügenden Informanten und vorschnellen | |
| Schlussfolgerungen.“ Stefan Michelfelder, lange Zeit im WDR-Justiziariat | |
| tätig, wies ebenfalls daraufhin: „Die vermeintlich heiße Information kann | |
| auch eine Falle sein, mit der Journalisten aufs Kreuz gelegt werden sollen. | |
| ## Leyendecker vermisst selbstkritisches „Innehalten“ | |
| Doch es ging nicht nur um anonyme Tipps unklarer Qualität. Immer wieder | |
| kommen Journalisten auch an geheime Ermittlungsakten der Strafverfolger. | |
| Hans Leyendecker (Süddeutsche Zeitung) mahnte jedoch seine Kollegen, man | |
| solle nicht immer versuchen, „mit irgendetwas der Erste zu sein“. Die SZ | |
| habe im Fall Wulff den Zugang zu Zwischenberichten der Ermittler bewusst | |
| nicht genutzt, anders als Focus und Spiegel. Leyendecker vermisste nach der | |
| Medienjagd auf den Exbundespräsidenten ein selbstkritisches „Innehalten“ | |
| der Branche. | |
| Doch dann geriet Leyendecker selbst unter Druck. „Warum haben Sie im Fall | |
| Edathy nur die halbe Wahrheit präsentiert?“, fragte ZDF-Rechtsexpertin | |
| Sarah Tacke. „Warum haben Sie zitiert, dass das Bundeskriminalamt die von | |
| Edathy bestellten Materialien als nicht strafbar einstufte, aber | |
| weggelassen, dass das BKA trotzdem Ermittlungen gegen Edathy empfahl?“ | |
| Leyendecker rechtfertigte seine Verkürzung, indem er die Ermittler | |
| kritisierte; aus legalen Handlungen dürfe kein Verdacht auf illegales | |
| Verhalten gezogen werden. | |
| Unsicherheit zeigte sich in Leipzig vor allem an der Frage, wie man bei der | |
| Verdachtsberichterstattung die Betroffenen einbeziehen muss. Soll man bei | |
| der Aufdeckung eines Skandals dem Angegriffenen schon konkret mitteilen, | |
| was man ihm vorwirft? „In wesentlichen Zügen muss man sagen, was man | |
| berichten will, aber man muss nicht jede Zahl konkret nennen“, erklärte | |
| NDR-Justiziar Klaus Siekmann. Wie viel Zeit muss ich für eine Stellungnahme | |
| lassen? „Das hängt davon ab, wie komplex die Fragen sind“, so Siekmann, | |
| „meist genügen ein oder zwei Tage.“ | |
| „Für Blogger gelten bei der Verdachtsberichterstattung die gleichen | |
| Regeln“, erläuterte Rechtsanwalt Thorsten Feldmann, „auch wenn sie | |
| praktisch in einer schwierigeren Situation sind.“ Weder hätten sie eine | |
| Rechtsabteilung, mit der sie sich beraten können, noch hätten sie genügend | |
| finanzielle Reserven, um in Zweifelsfragen eine riskante Auseinandersetzung | |
| zu wagen. | |
| Die juristischen Auseinandersetzungen hätten jedenfalls in den letzten | |
| Jahren deutlich zugenommen, hat MDR-Justiziar Dirk Kremser beobachtet. Auch | |
| weil bestimmte Landgerichte, vor allem in Hamburg, Berlin und Köln, | |
| zuverlässig betroffenenfreundlich entscheiden und schnell einstweilige | |
| Verfügungen erlassen. Volker Lilienthal, Professor für | |
| Qualitätsjournalismus an der Uni Hamburg, forderte deshalb: „Presserecht | |
| muss in der journalistischen Ausbildung künftig eine deutlich größere Rolle | |
| spielen.“ | |
| 23 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
| ## TAGS | |
| Jörg Kachelmann | |
| Christian Wulff | |
| Netzwerk Recherche | |
| Christian Wulff | |
| Edathy-Affäre | |
| Sebastian Edathy | |
| Recherche | |
| Medien | |
| Christian Wulff | |
| Pr | |
| Christian Wulff | |
| Christian Wulff | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Christian Wulff im Gespräch: „Ich bin nicht der Fetentyp“ | |
| Er war der Bundespräsident mit der kürzesten Amtszeit: Christian Wulff | |
| über Ruhestand mit 60, echte Freunde und seine Freude am Deutschen | |
| Chorwesen. | |
| Kommentar Verfahren gegen Edathy: Hausgemachter Imageschaden | |
| Die SPD hat sich gegen einen Ausschluss entschieden. So oder so ist Edathy | |
| weg vom Fenster. Seine Akte allein ist aber nicht das Problem. | |
| Entscheidung der SPD im Fall Edathy: Mitgliedschaft muss drei Jahre ruhen | |
| Eine Schiedskommission der SPD hat beschlossen: Sebastian Edathy muss die | |
| Partei nicht verlassen. Eine Pause muss er dennoch einlegen. | |
| Public Private Partnership und Medien: Gemeinsame Recherchen | |
| Die Öffentlich-Rechtlichen kooperieren vermehrt mit privaten Verlagen. Wer | |
| indirekt von Rundfunkgebühren profitieren darf, ist undurchsichtig. | |
| Medienethik: „Nicht den Fokus auf den Suizid“ | |
| Stefanie Averbeck-Lietz, Professorin für Kommunikationswissenschaft, über | |
| einen ethisch vertretbaren medialen Umgang mit Selbsttötungen. | |
| Politiker brauchen Makel: Einmarsch der Roboter | |
| So nachvollziehbar der Wunsch nach dem Idealzustand des fehlerfreien | |
| Politikers ist: Er ist verrückt, wenn man ihn zu Ende denkt. | |
| Mediale Schlammschlachten: Im Namen der Persönlichkeit | |
| Wenn Promis vor Gericht stehen, haben sie immer häufiger ihre Medienanwälte | |
| dabei. Die sind längst auch ihre PR-Berater. | |
| Debatte Wulff-Urteil und die Medien: Wir Tugendterroristen | |
| Die „Bild“-Zeitung hat an Christian Wulff ein Exempel statuiert. Dass die | |
| Konkurrenz ihr so bereitwillig folgte, ist kein gutes Zeichen für die | |
| Demokratie. | |
| Journalist über den Fall Wulff: „Ein Teil der Medien war auf Mission“ | |
| Autor Michael Götschenberg über den Machtkampf von Journalisten mit | |
| Christian Wulff, Quotendruck und warum kaum noch jemand Fakten checkt. |