Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Massentourismus in Venedig: Die Lagunenstadt vorm Abgrund
> Kreuzfahrtschiffe, Billigreisen, Hochwasser und Korruption nagen an den
> Fundamenten der berühmten Stadt.
Bild: Bis in die Lagungenstadt hinein fahren die Schiffe – zum Ärger der Anw…
Giuseppe Tattara schaut aus dem Fenster. Seine Wohnung liegt über den
Dächern des Viertels Dorsoduro. Er schaut auf rote Ziegeldächer,
verwinkelte Innenhöfe und Balkönchen mit Blumentöpfen. Dahinter fließt der
Canale della Giudecca. Zwei Kirchtürme ragen über die Dächer hinaus. „Wenn
ein Kreuzfahrtschiff durch den Kanal fährt, sehe ich die Kirchen nicht
mehr, und auch der Kanal verschwindet. Es ist, als ob jemand ein Hochhaus
mit 14 Stockwerken vor dein Fenster schiebt“, sagt er.
Tattara ist ein hagerer älterer Herr. In seinem Wohnungsflur hängt ein
großes Holzkreuz. Er sagt die Dinge mit ernstem Gesicht.
Giuseppe Tattara ist aber auch Wirtschaftsprofessor an der Universität
Venedig und einer der erbittertsten Gegner der rund 600 Kreuzfahrtschiffe,
die sich jährlich ihren Weg durch die Lagune pflügen.
Er legt ein Büchlein auf den Tisch. Es ist die Studie „Quantifying
Cruising“, die er selbst verfasst hat und die ihm und seiner
Bürgerinitiative No Grandi Navi eine empirische Argumentationshilfe an die
Hand gibt.
Die Daten, die dort zusammengetragen und verglichen werden, ergeben ein
unschönes Bild: Die rund 1,7 Millionen Touristen, die jährlich mit den
Riesenschiffen am Markusplatz anlegen, an Land gehen oder auf dem Schiff
bleiben, verursachen den Venezianern mehr Kosten als Gewinn.
Sie gefährden das ohnehin nicht sehr stabile Gleichgewicht der weltweit
einmaligen Lagunenlandschaft, die unter dem Schutz der Unesco steht. Die
Menschen, die aus den voll klimatisierten Meereshotels in die Stadt
strömen, konsumieren wenig, produzieren aber viel Müll.
## „Es ist ein Drama“
Die Schiffe hinterlassen ebenfalls Müll, verschmutztes Wasser und
verursachen erhöhte Feinstaubwerte. Noch nicht quantifizierbar sind die
durch die Wellenbewegungen verursachten Schäden an den Fundamenten der
Kanäle. Das Fazit der Studie: Die Zukunft der Lagune, die ohnehin zunehmend
durch Hochwasser bedroht wird, ist mit dem Boom des Kreuzfahrttourismus
noch unsicherer geworden. „Es ist ein Drama“, flüstert Tattara.
Das finden inzwischen auch viele Venezianer, die von den Mahnungen der
Umweltschützer bislang eher genervt waren. Die adligen Besitzer der
historischen Paläste, darunter die Prinzessinnen von Savoia und Gonzaga,
riefen anlässlich einer Gondelregatta dazu auf, das „gefährdete Ökosystem�…
der Stadt vor den Riesenschiffen zu retten. Die eigens angefertigten Fahnen
mit der Aufschrift „Venezia è laguna“ hängen an den antiken Häuserfassad…
der wertvollen Immobilien, die auf dem Lagunengrund gebaut wurden, der
weder Land noch Wasser ist.
Ihre Besitzer fühlen sich durch den Wellenschlag und die
Wasserverschmutzung der Kreuzfahrtschiffe, aber auch durch das Image des
Billigtourismus, den diese in die Stadt bringen, bedroht.
## Nur ein kurzer Besuch
Das Thema Kreuzfahrtschiffe schafft seltsame Allianzen. Während
Souvenirverkäufer und Fast-Food-Lokale sie nicht missen möchten, schlagen
sich die Gepäckträger, die in der Stadt ohne Autos die Taxis ersetzen, auf
die Seite der Bürgerinitiativen und adligen Hausbesitzer. „Aus den
Riesenschiffen kommt selten jemand mit einem Koffer. Sie bleiben meist
weniger als einen Tag und müssen auch nicht ins Hotel gebracht werden“,
erklärt Mauro, der mit seinem Hund und drei Kollegen an der Mole von San
Marco steht.
Er ist 55 Jahre alt. Den Job macht er, seit er 15 ist. Nur in der
Sommersaison verdient er noch gut. Bald will er aufhören und seiner Tochter
im Geschäft helfen. Sie verkauft Karnevalsmasken und Plastikgondeln in
einem kleinen Laden nahe dem Bahnhof Santa Lucia.
Die meisten Souvenirs kommen inzwischen aus China. „Sie sind aber gut
gemacht, auch die Glasfiguren, die viele als Muranoglas verkaufen“, findet
Mauro. Er wohnt mit seiner Frau in der eingemeindeten Industriestadt
Mestre. Eine Miete in Venedig kann er sich nicht leisten. Denn wer hier
eine Immobilie besitzt, lässt sie sich von Feriengästen vergolden. Das
schafft Unmut bei jenen, die einfach nur in ihrer Wohnung leben wollen.
## Schwarz vermietete Wohnungen
So geht es Petra Reski, deutsche Journalistin und Autorin, die Venedig vor
über 20 Jahren zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. „Wir begegnen im Hof jeden
Tag anderen Menschen, die sich natürlich weder um die Regeln des
Zusammenlebens noch um die Entsorgung ihres Mülls kümmern müssen“, erzählt
sie.
Ein Drittel der venezianischen Wohnungen wird schwarz an Touristen
vermietet. Reski ist sich aber auch bewusst, dass es ein außerordentliches
Privileg ist, in einem antiken Palazzo nahe dem Markusplatz zu wohnen.
Deshalb versucht sie wie alle Venezianer, eine Parallelexistenz zum
Massentourismus zu leben.
„Im Sommer kann man in den engen Gassen vor lauter Menschen gar nicht
laufen. Da gehe ich nur frühmorgens aus dem Haus und dann höchstens wieder
spätabends“, gesteht sie.
Trotz ihrer Liebe zu Venedig geht es in Petra Reskis erstem Krimi um die
„Palermo Connection“. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der
Mafia, und ihre Freundin Donna Leon, die mit ihren Krimis über Venedig und
den Commissario Brunetti zu weltweitem Ruhm gekommen ist, hat sie dazu
angestachelt, einen Mafiakrimi zu schreiben.
## Mehr Mafia in Müchnen und Dortmund
Venedig kommt in Reskis Mafiageschichten allerdings nie vor. „Die Bosse
haben jetzt erst begonnen, sich hier Restaurants zu kaufen. Die Lokale
dienen als Geldwaschanlagen und haben oft nicht mal eine eigene Küche. Aber
wahrscheinlich gibt es in Venedigs Gastronomie weniger Mafia als in München
oder Dortmund“, sagt sie.
Reski und viele andere warnen aber dennoch davor, das Phänomen zu
unterschätzen. Denn der Massentourismus ist ein appetitliches Geschäft für
die Mafia. Diese Erfahrung hat auch der linksgrüne Lokalpolitiker,
Exbürgermeister von Mestre und Buchautor Gianfranco Bettin gemacht. Er
hatte in einem Artikel vor der Infiltrierung des Tourismus gewarnt; vor
allem ging es um den Parkplatz Tronchetto, wo die Reisebusse aus ganz
Europa ankommen. Danach bekam er das Bild eines Sarges zugeschickt.
Einer von Bettins engsten Mitstreitern in der Lokalpolitik ist Beppe
Caccia. Gemeinsam haben sie im Gemeinderat 14 Alternativvorschläge für das
von vielen kritisierte Stauprojekt Mo.S.E eingereicht – ohne Erfolg. „Es
ging um Projekte, die weniger kosten und technologisch viel innovativer
sind, aber da war nichts zu machen. Jetzt wissen wir, dass die Befürworter
alle geschmiert waren“, erklärt Caccia.
## Ein korrupter Sumpf
Im vergangenen Sommer kam heraus, dass aus der Lagune ein Sumpf geworden
war. Bürgermeister Giorgio Orsoni ist wegen Korruption aufgeflogen und mit
ihm das gesamte Konsortium Venezia Nuova. Dieses ist für die Finanzierung
und den Bau des Projekts verantwortlich, das die Stadt vor dem Hochwasser
schützen soll, das die Lagune inzwischen an mehr als 50 Tagen im Jahr
bedroht.
Das Konsortium aus staatlichen und privaten Firmen war mit Unterstützung
von Exministerpräsident Silvio Berlusconi gegründet worden und verwaltet
enorme Summen, die es ohne öffentliche Ausschreibungen an Baufirmen oder
Berater vergeben kann. Jetzt wird es kommissarisch geführt.
„Hier verschwanden Milliardensummen, die der Stadt entzogen wurden, die
sich heute weder sozialen Wohnungsbau noch einen Feuerschutz für die
Gebäude leisten kann“, so Caccia.
Dennoch will er in die allgemeine „Untergangsrhetorik“ nicht einstimmen.
„Im Gegensatz zu anderen Städten verzeichnet Venedig einen
Bevölkerungszuwachs außerhalb des touristischen Zentrums“, sagt er. Doch
ohne Tourismus kann die Stadt seiner Meinung nach nicht überleben: „Man
kann nicht einfach die Schotten dicht machen.“
## Ein Kanal durch die Lagune
Im Mai gibt es Stadtratswahlen und eine neue Chance. Der
Bürgermeisterkandidat der Mitte-links-Partei (PD) ist Felice Casson,
Staatsanwalt und Untersuchungsrichter. Er hat schon gemeinsam mit Bettin
für die Entschädigung der Opfer der Petrolindustrie im venezianischen Hafen
Marghera gekämpft. Das erste Projekt, das Caccia und Bettin stürzen wollen,
ist der vom Mo.S.E-Konsortium durchgesetzte Canale Contorta, der quer durch
die Lagune gegraben werden soll, um die Kreuzfahrtschiffe vom Markusplatz
fernzuhalten. Auch Giuseppe Tattara ist gegen den Kanal.
„Es wäre der Todesstoß für die Lagune“, sagt er. Der Ökonom hält aber …
nichts von dem Alternativvorschlag, die Meereskreuzer im Industriehafen von
Marghera einlaufen zu lassen oder eigens eine Insel mit Anlaufstelle zu
bauen.
„Der Massentourismus der Kreuzfahrtschiffe mit all seinem Müll überschwemmt
die Stadt in jedem Fall“, befürchtet er. Dann schaut er wieder aus dem
Fenster. Die Abendwolken über der Lagune sind rosa, und der Blick auf die
Kirchtürme ist frei – zumindest bis zum nächsten Morgen.
12 Apr 2015
## AUTOREN
Michaela Namuth
## TAGS
Venedig
Schwerpunkt Korruption
Massentourismus
Kreuzfahrt
Reiseland Italien
Mallorca
Literatur
Reiseland Italien
Reiseland Tschechien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Protest gegen Touristen auf Malle: Wie schwer es ist, beliebt zu sein
Viele Touristen buchen per Airbnb Privatquartiere, Investoren parken ihr
Geld in Grundstücken. Nun rumort es in Palma de Mallorca.
Donna Leon über ihren neuen Roman: „Aber jetzt wollen sie dort buddeln“
Die Autorin über Giftmüll in der Lagune, einen ausgebrannten Commissario
Brunetti und die Inspiration aus einem Glas Honig.
Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Perfide Hochzeitsreise
Immer mehr Single-Reise-Veranstalter bieten eine unkomplizierte Plattform
um sich kennen zu lernen. Die Reise zu zweit sollte dann gut geplant sein.
Adria-Rundreise: Das Illy-Meer
Bis in die Neuzeit war die Adria ein venezianisches Meer, dann ging es
epochenweise bergab. Und heute? Eine Umrundung in fünf Etappen.
Historische Gräben überwinden: Eine verfallene Kulturlandschaft
Eine Reise in die geteilte Stadt Teschen und ins schlesische Mähren. Eine
Begegnung mit Deutschen, Polen und Tschechen: Gefühle von Hass und
Revanchismus waren gestern
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.