| # taz.de -- Donna Leon über ihren neuen Roman: „Aber jetzt wollen sie dort b… | |
| > Die Autorin über Giftmüll in der Lagune, einen ausgebrannten Commissario | |
| > Brunetti und die Inspiration aus einem Glas Honig. | |
| Bild: Donna Leon lässt ihren Commissario dieses Mal in Venedigs verseuchter La… | |
| taz.am wochenende: Frau Leon, nach mehr als 25 Jahren sind Sie immer noch | |
| mit Ihrem literarischen Chefermittler, dem Commissario Brunetti, | |
| „zusammen“. Aber – nach nun fast vier Jahrzehnten – scheint Ihre große | |
| Liebe zu Venedig etwas abgeklungen. Sie leben jetzt hauptsächlich in der | |
| Schweiz? | |
| Donna Leon: Nein, ich pendle zwischen der Schweiz und Venedig. Der Sommer | |
| in Venedig ist mörderisch. Es ist heiß, chaotisch und überlaufen. | |
| Überlaufen! Wir haben in Venedig 33 Millionen Touristen im Jahr. In einer | |
| Stadt mit 54.000 Einwohnern. Venedig ist kein Ort, um den Sommer dort zu | |
| verbringen. Im Winter, wenn die Touristenmassen weniger werden, bin ich | |
| öfter und immer gerne dort. | |
| Können Sie denn in den Schweizer Bergen ein Buch über Venedig schreiben? | |
| Ich könnte hier an diesem Tisch schreiben. Oder in einer Telefonzelle. | |
| Sie kennen Venedig in- und auswendig? | |
| Es gibt ganze Stadtteile, die ich gar nicht gut kenne. Immerhin verlaufe | |
| ich mich aber nicht und kenne Geografie und Menschen ganz gut, weiß über | |
| Bräuche, Gewohnheiten und Sprache Bescheid. | |
| Sie haben mal gesagt, man müsse verrückt sein, um bei Venedig optimistisch | |
| zu bleiben. | |
| Oh, ich neige nicht zum Optimismus. Ich bin – und das zeigt mein jetziges | |
| Buch, sehr ökologisch und umweltbewegt – und von daher eine | |
| Umwelt-Pessimistin. | |
| Wie entstand die Idee zu „Stille Wasser“? | |
| Ich unterhielt mich gerade mit Césare, dem Eigentümer vom „Al Covo“ in | |
| Castello. Da sah ich auf dem Tresen ein Glas. Die Substanz darin hatte eine | |
| seltsame Farbe, ein sehr, sehr blasses Gelb. Ich fragte ihn, was das sei. | |
| Er antwortete: venezianischer Honig, aus den Salzmarschen in der Lagune. | |
| Und ich dachte: Das wäre doch eine interessante Idee, dort draußen einen | |
| Roman spielen zu lassen. | |
| Warum gerade dort? | |
| Ich wollte weg von diesem Venedig, das jeder zu kennen glaubt. Weg von den | |
| gotischen Fenstern, den Statuen, den Kirchen, der Basilika – weg von all | |
| dieser menschengemachten Schönheit. In dem Buch gibt es sehr wenig davon, | |
| alles ist Natur. Ich habe eine Menge Zeit in der Lagune verbracht. Ich | |
| liebe es dort. | |
| Sie warten bis Seite 152, bis Sie die Leiche präsentieren. | |
| Das ist es doch: Da draußen passiert nichts! | |
| Donna Leon ist also auf dem gleichen Entschleunigungs-Trip wie Ihr | |
| Commissario, der an eine Auszeit denkt? | |
| Stimmt. Es ist eine Art Entzug. Ich wollte mal runterkommen, da draußen in | |
| der Lagune. Und eine Idee davon vermitteln, was da draußen los ist. Die | |
| Menschen in Venedig wissen das ja oft ganz genau. Aber würde das allgemein | |
| bekannt, wäre es schlecht für den Tourismus. | |
| Den mögen Sie ja ohnehin nicht. | |
| Gerade wird überlegt, ob man die Kreuzfahrtschiffe im Guidecca-Kanal nicht | |
| doch wieder stoppen kann. Sie wollen jetzt einen neuen Kanal ausheben. Aber | |
| damit würden sie das ganze Gift aufwirbeln, das seit dreißig, vierzig | |
| Jahren am Grund der Lagune liegt. Es sank, still und vergessen, immer | |
| tiefer in den Meeresboden. Aber jetzt wollen sie dort buddeln, den | |
| Vittorio-Emanuele-Kanal ausbaggern und damit diese ganzen Giftstoffe ins | |
| Wasser der Lagune befördern. Es wäre verheerend, all das Cadmium, Arsen und | |
| weiß Gott, was da unten alles liegt, freizusetzen. Über Jahrzehnte hinweg | |
| haben die Konzerne der Petrochemie im venezianischen Industriegebiet | |
| Marghera alles, was sie loswerden wollten, dort versenkt. | |
| Um diese illegale Giftmüll-Entsorgung dreht sich Ihr Roman. Woher beziehen | |
| Sie Ihre Informationen? Sie vertrauen den italienischen Medien nicht. Wem | |
| dann? | |
| Ich vertraue auf Klatsch und Tratsch und auf die Menschen, die ich seit | |
| vierzig Jahren kenne. Ich betreibe Smalltalk, höre auf all das | |
| oberflächliche Geplappere. Und dann, nach einer Weile, verraten die Leute | |
| mir so Dinge. | |
| Wie sehr ist die Natur rund um Venedig tatsächlich in Gefahr? | |
| Es geht um eine enorme Wasserfläche. Ein Bekannter kam neulich von | |
| Sant’Erasmo. Auf der Fahrt hatte er Leute fotografiert, die im Schlamm | |
| Muscheln sammeln. Ich fragte meine venezianischen Freunde: Würdet ihr die | |
| essen? Und sie riefen: Nie im Leben! Stimmt schon, die Natur dort sieht | |
| unberührt aus, wundervoll. Aber eine Muschel essen, die aus diesem Wasser | |
| kommt? Nein, danke! | |
| Sie werden im September 75. Denken Sie an Ruhestand? | |
| Nicht, solange es Spaß macht. Wenn ich mal stöhne „Mein Gott, schon wieder | |
| ein Buch schreiben“, dann würde ich aufhören. | |
| Was werden Sie an Ihrem Geburtstag machen? | |
| Keine Ahnung. Oh doch, ich weiß: Ich werde in Neapel sein. Giulio | |
| d’Alessio, der Künstlerische Leiter von „Il Pomo d’Oro“, ist Neapolita… | |
| Ich bin bei ihm und seiner Familie eingeladen. Und Giulio und ich werden | |
| gemeinsam Geburtstag feiern. Er hat einen Tag später. | |
| Neapel. Welch ein ungewöhnlicher Platz für einen runden | |
| Donna-Leon-Geburtstag. | |
| Ich war schon seit Jahren nicht mehr in Neapel. Ich kann es kaum erwarten. | |
| Ich liebe Neapel. Weil es das reinste Chaos ist. | |
| Arbeiten Sie bereits am nächsten Buch, dem 27. Fall? | |
| Das ist fertig. Ich habe es eben an die Verlage geschickt. | |
| Wird auch da, wie oft in den Brunetti-Romanen, der Mörder ungestraft | |
| davonkommen? | |
| Das ist doch normal, dass die Täter davonkommen, oder? Es ist gar nicht | |
| mein Anliegen, dass sie verurteilt und bestraft werden. Ich beobachte | |
| einfach, was in Italien los ist; ich bin da nur wie ein Spiegel. Es ist | |
| nicht meine Aufgabe, kriminelle Taten zu bewerten und Gerechtigkeit | |
| herzustellen. Vielleicht wirkt das so, wenn man meine Bücher liest, aber | |
| ich sehe es nicht als meine Aufgabe an. Als Beobachterin sage ich aber: In | |
| Italien sitzen nur eine Menge kleiner Fische im Gefängnis. Die großen | |
| nicht. Das ist im System gar nicht vorgesehen. | |
| Wie kann jemand, der die Zukunft der Menschheit und der Welt so zutiefst | |
| pessimistisch bewertet, so fröhlich und gut gelaunt durchs Leben gehen? | |
| Daran sind meine Mutter und mein Vater schuld. Ich hatte glückliche Eltern. | |
| Menschen, die Witze und Wortspiele machten. Meine Eltern haben mich auf | |
| Fröhlichkeit geprägt. | |
| Wenn man in Ihrer Biografie stöbert, stößt man immer wieder auf | |
| erstaunliche Details. Eines davon: Sie waren der erste – und bislang | |
| einzige – weibliche Tennis-Champion im Iran. | |
| Isfahan, Iran, 1978, Frauen-Einzel. Ja! Ich habe den Pahlavi-Cup gewonnen, | |
| benannt nach dem damaligen Schah. | |
| Und der Pokal steht jetzt in Venedig? | |
| Nein. Als ich während der Islamischen Revolution evakuiert wurde, habe ich | |
| ihn nicht mit eingepackt. | |
| Aber Ihre Dissertation über Jane Austen hatten Sie eingepackt. In | |
| mehrfacher Ausfertigung, verteilt auf verschiedene Gepäckstücke. | |
| Und alle sind sie verlorengegangen. Gott sei Dank! Man weiß nie, was einem | |
| das Leben bringt. Zu jener Zeit wusste ich noch nicht, dass das ein | |
| Geschenk sein würde. Aber das war es. Ich war mit allem durch, hatte alle | |
| Prüfungen bestanden. Nur die Dissertationsschrift fehlte noch. | |
| Ein Verlust, der Ihr Leben verändert hat? | |
| Absolut. Er hat mir das Leben gerettet. Sonst wäre ich in Iowa oder Wyoming | |
| gelandet, um auf irgendeinem landwirtschaftlichen Institut Englische | |
| Literatur zu lehren. Und meine Schüler würden direkt aus dem Kuhstall | |
| kommen und sagen: „Also gut, Frau Doktor, wollen wir uns mal über diesen | |
| Wälzer hier unterhalten, ‚Stolz und Vorurteil‘. Worum geht’s da noch mal… | |
| 7 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Andrea Herdegen | |
| ## TAGS | |
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