# taz.de -- Tanz aus Israel: Auf einen Schwur gebaut | |
> Nahe der libanesischen Grenze übt die Kibbutz Contemporary Dance Company | |
> ihr „Lullaby for Bach“ ein. Das Stück ist auch in Wolfsburg zu sehen. | |
Bild: Szene aus „Lullaby For Bach“ der Kibbutz Contemporary Dance Compagny | |
Schlaflosigkeit kennt viele Gegenmittel. Schäfchenzählen ist nur die | |
Armeleutevariante. Jemand wie Graf Keyserlingk, Förderer Johann Sebastian | |
Bachs, bestellte sich dagegen – einer äußerst umstrittenen, aber hübschen | |
Anekdote nach – bei Bach die Goldbergvariationen, die in langen Nächten | |
dann sein Hofpianist Goldberg für ihn spielen sollte. Daher der Name. Viel | |
reicher noch als die Gegenmittel sind aber die Gründe für Schlaflosigkeit. | |
Angefangen bei fremden Betten, Stress, Liebeskummer bis hin zu Politik und | |
Krieg. All das ist in tänzerischer Abstraktion, vielleicht sogar in | |
ähnlicher Steigerungskurve, enthalten in Rami Be’ers neuer Choreografie | |
„Lullaby for Bach“ für die Kibbutz Contemporary Dance Company (KCDC): | |
Wühlen, Wälzen, Taumeln, immer wieder den Kopf wegtauchen mit der Hand, | |
Kämpfen. Ende des Monats kommt die Uraufführung zu den Wolfsburger | |
Movimentos Festwochen. | |
Ensembles dieser Besetzungsgröße – es tanzen um die 20 TänzerInnen – kann | |
sich innerhalb des deutschen Festivalbetriebs derzeit kaum jemand leisten. | |
Trotzdem ist die Gruppe häufig hier zu Gast, meist in Stadttheatern und | |
Opernhäusern. Aber Berlin zum Beispiel hat weder das Geld noch allzu viel | |
Sinn für die an der Neoklassik orientierte Tradition des Tanztheaters. | |
Ich wurde in der ersten Aprilhälfte vom Festival Movimentos eingeladen, mir | |
eine Durchgangsprobe des neuen Stücks im Kibbuz Ga’aton anzuschauen, ganz | |
im Norden Israels, acht Kilometer vor der abgeriegelten Grenze zum Libanon. | |
Bei einem Länderranking für Gründe zur Schlaflosigkeit würde Israel sicher | |
nicht schlecht abschneiden. | |
Die Zeitungen überschlugen sich während dieser Zeit mit dem Fall einer | |
vorgetäuschten Entführung durch einen israelischen Soldaten sowie den | |
Atomverhandlungen mit Iran. Premier Netanjahu verbreitete so viel Hysterie, | |
dass sich so mancher Kommentator alle Mühe zur Beschwichtigung gab. | |
## Eine Kletterwand ins Reich des Schlafs | |
Bei Rami Be’er stehen zwei granitfarbene Kulissenbauten links vorne und | |
rechts hinten auf der Bühne, die wie eine senkrechte Kletterwand ins Reich | |
des Schlafs wirken. Einzelne Frauen hangeln sich dort in Slow Motion an | |
Symbolen einer anderen Verständniswelt entlang – ein bisschen ähnelt es dem | |
Reliefcharakter von Sasha Waltz’ „Körper“ – während sich parterre | |
schwarmartige Formationen bilden, von floralen zu rauschhaften zu | |
militanten. Und auch der große Bruder kommt, allerdings nicht als | |
Sensenmann sondern als grotesker Komiker, vorbei. Warum so viele kleine | |
Tode sterben und immer wieder aufwachen, wenn am Ende alles doch nur ein | |
garstiges Spiel war? | |
Einer der Arbeitstitel des neuen Stücks hieß „Why Bach?“. Es war keine | |
rhetorisch gemeinte Frage. Erstens muss es im Tanzgeschäft schon gute | |
Gründe geben, um auf klassische Musik zu tanzen. Das ist zu | |
ballettverdächtig. Zweitens ist Bach zwar international, aber eben auch ein | |
Komponist der großen christlichen Passionen, also einer Thematik, mit der | |
ein jüdisches Tanzensemble nicht unbedingt verbunden wird. | |
Drittens sind die berühmten, von Israelis geleiteten Kompagnien wie die | |
KCDC, die Batsheva Dance Company aus Tel Aviv oder Hofesh Shechters Gruppe | |
aus London eher für ihre preschenden Beats, gerne in repetitiven Patterns, | |
bekannt und kaum für transzendent gebaute Partituren. Wobei man, wie der | |
Berliner Ballettintendant Nacho Duato in seinem gerade für das | |
Staatsballett neu aufgelegten (virtuosen aber recht leeren) Stück | |
„Vielfältigkeit“ beweist, auch auf Bach preschen kann. | |
Rami Be’er, der langjährige Leiter der KCDC, schließt sich eher Alain | |
Platel an, wenn er nach Gründen für Bach sucht: „Ich kann meine Verbindung | |
zu dieser Musik immer wieder neu entdecken. Ausschlaggebend dafür ist der | |
(Frei-)Raum, der zwischen der kognitiven, rationalen Rezeption und der | |
emotionalen entsteht.“ Bach wächst mit einem mit. | |
Für die Wolfsburger Uraufführung hat Be’er hauptsächlich bekannte Aufnahmen | |
für Soloinstrumente ausgewählt. Darunter die Meistergeiger-Chaconne aus der | |
Partita Nr. 2, eingespielt in der eher weichen Interpretation von Itzhak | |
Perlman, eine Mandolinenversion des Largos aus dem Oboenkonzert in g-Moll | |
sowie Glenn Goulds Einspielung der Aria aus den Goldbergvariationen. | |
## Wiedererkennungswert der Partitur | |
Es kam dem Choreografen sowohl auf die Durchhörbarkeit der Werke an – was | |
gegen Orchesterpartituren spricht – als auch auf den Wiedererkennungswert. | |
Denn gerade vor dem Hintergrund von Allgemeingütern wie den bekannten | |
Bachwerken ließe sich die Differenz von individuellen Annäherungen | |
nachvollziehen. So tanzen sich auch immer wieder ein Einzelner oder ein | |
Paar aus dem sogartigen Ensemble frei. | |
Der Gruppenstil, der sich auch auf die Soli überträgt, ist stark von Rami | |
Be’ers Handschrift geprägt: eine schnelle, impulsgesteuerte und doch weiche | |
Tanzsprache, die Elemente des neoklassischen Balletts, der Graham-Technik, | |
der Kontaktimprovisation sowie des zeitgenössischen Tanzes in sich vereint | |
und die für über 30-Jährige kaum zu bewältigen ist. Auffällig: Auch in | |
Gaga, der energetischen somatischen Methode von Ohad Naharin, Choreograf | |
der Batsheva Company, sind die Tänzer geschult, also der Technik des | |
größten Konkurrenten. | |
Im Jahr 1994 hat Be’er die KCDC übernommen, seitdem sind seine | |
Choreografien zum Label der Kompagnie geworden. Unter ihrer Gründerin | |
Yehudit Arnon war sie ein reines Repertoire-Ensemble, das Werke bei | |
Weltklassechoreografen wie Jiri Kylian, Mats Ek oder Susanne Linke in ihren | |
besten Jahren bestellte. | |
Arnon hatte das Ensemble in den siebziger Jahren aufgebaut. Sie war dabei | |
einem Gelübde gefolgt, das sie einst in Auschwitz-Birkenau für sich selbst | |
abgelegt hatte. Aufgrund ihrer Tanzleidenschaft sollte sie zum | |
Nazi-Entertainmentprogramm gezwungen werden. Sie verweigerte und musste | |
daraufhin eine Nacht barfuß im Schnee stehen. In dieser Nacht schwor sich | |
die sehr junge Frau, ihre Zukunft, sollte sie überleben, dem Tanz zu | |
widmen. | |
Nach ihrer Ankunft in Israel half sie beim Aufbau des Kibbuz Ga’aton, wo – | |
auf einem Terrain, das bis zum Krieg von 1948 arabisch bewohnt war – | |
zunächst vor allem Avocados und Tabak angebaut wurden. Nach der Arbeit | |
versammelte sie die ArbeiterInnen dann zum Tanz. Rami Be’er, dessen Eltern | |
ebenfalls Holocaust-Überlebende waren, erhielt seinen ersten Unterricht bei | |
Yehudit Arnon im Alter von drei Jahren. | |
## Dance Village mit Schnellstraßenausfahrt | |
Heute ist aus der Initiative ein „Dance Village“ im Grünen mit eigener | |
Schnellstraßenausfahrt geworden. Dazu gehören die KCDC mit einem Stamm- und | |
Nachwuchsensemble sowie einem Tanz-College (Massa-Programm) mit | |
internationalen Studenten. Wer jüdisch ist, bekommt ein Stipendium von der | |
Jewish Agency. Die meisten sind es. Arabische Israelis oder gar | |
PalästinenserInnen sind dagegen derzeit nicht im Village vertreten. | |
Andererseits gehört es bei aufgeschlossenen Kultureinrichtungen in Israel | |
inzwischen zum Programm, sich im Annäherungsprozess zu engagieren. Die | |
Batsheva-Company bietet schon auf ihrer Website eine Arabischoption an, die | |
KCDC Empowerment-Workshops für Frauen in arabischen Dörfern. Das mag fast | |
selbstverständlich scheinen. | |
Aber vor dem Hintergrund, dass das Kibbuz Ga’aton in Reichweite | |
libanesischer Hizbollahraketen liegt, wird einmal mehr klar, dass | |
Friedensdienste in Israel keine abstrakten Größen sind, sondern Proben | |
ausgesetzt, die erst einmal bestanden werden wollen. | |
Vielleicht ist es diese ambivalente Mischung aus Verständnis und | |
Verteidigung, die eine Männerpartie in „Lullaby for Bach“ alle paar Takte | |
von militärischem Drill in schnelle Schrittfolgen des traditionellen | |
arabischen Dabka abgleiten lässt. Und wieder zurück. Die gleichbleibende | |
Qualität daran ist der Machismo. | |
Jedoch wirkt diese Szene – die einzige, die konkret zu konnotieren wäre – | |
weniger als Schlüsselszene des Stücks als vielmehr wie eine aus dem hohen | |
Puls sich ergebende Deformation der (musikalischen) Wirklichkeit. Eine | |
Folie, die sich aus einem anderen Bewusstsein durchdrückt. | |
## Kaum jemas darf Bach Bach bleiben | |
Einiges ist bei Rami Be’er, der außerdem ausgebildeter Cellist ist, in den | |
musikalischen Schnitten zu erleben. Kaum jemals darf Bach bei ihm Bach | |
bleiben. Nach wenigen Takten kommt eine zweite Spur aus den Boxen: | |
Tindersticks oder sich ins Aggressive steigernde Geräuschsalven, die das | |
Beinahe-Mitsummen stoppen und die Ordnung der transparent gebauten Musik | |
stören. | |
Manchmal lassen sie Bach dadurch noch weltenthobener klingen, manchmal | |
sensibilisieren sie für eine gewisse Schärfe. Gerade die Doppelgriffe in | |
der Violinen-Chaconne klingen dann wie berstendes Glas. Und es wird klar, | |
warum Schönheit weh tut: Sie dehnt zu klein gewordene Herzen bis zum Reißen | |
aus. | |
28 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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