# taz.de -- Tanzfestival in Marrakesch: Zwischen Straßendreck und Goldstaub | |
> Die Neugierde hilft: Dem Tanzfestival „On Marche“ in Marrakesch gelang | |
> es, auf öffentlichen Plätzen ein großes Publikum zu begeistern. | |
Bild: Kaum bereiten die Künstler den Platz vor, versammeln sich Zuschauer und … | |
Vor dem Bab Doukala, einem der neun Stadttore zur Medina von Marrakesch, | |
wird in konzentrierter Langsamkeit ein anatomisches Kreideherz auf das | |
Pflaster gemalt. Essensreste, geborstene Flaschen, Eselsexkremente, | |
Uringeruch und Motorenöl haben auf dem großen Durchgangsplatz zwischen | |
Stadttor und Busbahnhof ihre Spuren hinterlassen. Um eine Palme herum | |
hängen halb bewusstlose Schnüffler, der Dealer mixt seine Ware hier in | |
aller Öffentlichkeit in zwei großen Plastikflaschen ab. | |
Das ist nicht unbedingt ein Platz zum Verweilen für diejenigen, die | |
Alternativen haben. Aber die Marrakescher besitzen ein untrügliches Gespür | |
für sich ankündigende Ereignisse. Und so dauert es nur wenige Momente, bis | |
sich um eine junge Künstlerin, die dabei ist, dem Platz ein Kreideherz | |
einzupflanzen, eine große Menschentraube versammelt hat. | |
Es ist der Auftakt zur Freiluftperformance des belgischen Kollektivs In | |
Extremis und damit zu der achten Ausgabe des Festivals On Marche. So heißt | |
das einzige marokkanische Festival für zeitgenössischen Tanz, das neben | |
Beirut und Tunis eine der wichtigen Adressen für die Szene in der | |
sogenannten arabischen Welt ist. | |
## Ethik des Tanzes | |
Die Revolutionen haben es dieser Kunstform in konservativen muslimischen | |
Kulturen bislang nicht leichter gemacht. Ein zufälliger Nebensitzer im | |
Flugzeug, Ingenieursstudent, bestätigt die üblichen Vorurteile: „Ein | |
Berufstänzer gilt irgendwie als schwul und eine Tänzerin ohnehin als | |
unehrenhaft.“ Die Ethik des Tanzes gegen die Ethik der Religion ist nur | |
Schritt für Schritt verhandelbar. | |
Auch in den Diskussionsveranstaltungen des Festivals kommen neben der Ort- | |
und Institutionslosigkeit des Tanzes die religiös verstandenen Anfeindungen | |
zur Sprache. Der tunesische Tänzer Hafiz Dhaou wurde am Anfang seiner | |
Ausbildung in seinem Viertel als „Schwuler“ mit Gürteln traktiert, die | |
Tanzwerkstattleiterin Meryam Jazouli aus Casablanca erwähnt | |
Schwierigkeiten, die Familien von tanzbegeisterten Mädchen zu überzeugen. | |
Die Performerinnenquote unter den maghrebinischen Teilnehmern des Festivals | |
spiegelt diese Verhältnisse. Nur zwei Frauen sind an den Produktionen als | |
Tänzerinnen beteiligt. | |
Entsprechend dringlich sind in diesem beengten Rahmen die Botschaften der | |
Soli, die zwischen intimem Flüstern und raumsprengendem Performance-Gesang | |
auf Muezzin-Lautstärke alternieren. Dabei werden Zitate aus Volkstänzen, | |
die in Marokko paradoxerweise immer noch einen hohen Stellenwert haben, vom | |
Publikum umstandslos verstanden. | |
## Ausbau eines Freiraums | |
Es ist darum ein guter Griff des Festivalleiters Taoufiq Izeddiou, | |
unermüdlich an den kleinen Freiraum anzuknüpfen, den sich die Tradition in | |
Bezug auf die Religion erhalten hat. Im Zentrum der viertägigen | |
Aufführungsfolgen steht die jährliche „Marche“, an der sich alle | |
eingeladenen Künstler im Ensemble mit traditionellen | |
Dakka-l’Marakchia-Musikern beteiligen. | |
Sie findet auf einem von Fußgängern eher weniger frequentierten Platz an | |
der verkehrslastigen Rue Mohammed V statt. Auch hier bildet sich, kaum | |
kommt die Veranstaltung in Schwung, wieder unverzüglich eine riesige | |
Menschentraube. „On marche“, der Festivalslogan, ist als Schlagwort | |
zwischen „Wir bewegen (uns)“, „Wir schreiten (voran)“ und „Wir gehen | |
(weiter)“ angesiedelt. | |
Bei der programmatischen Performance bilden die Tänzer ein elastisches | |
Körperband, innerhalb dessen sie den Platz in einer einstündigen, sich | |
langsam steigernden Vorwärtsbewegung überqueren. Gerade am Anfang erfordert | |
das Zuschauen Konzentration, aber für das Publikum scheint zu gelten: Wer | |
stehen bleibt, bleibt. | |
## Die Lust der Partizipation | |
Auch wenn in Marokko die Protestbewegung des 20. Februar – wie der kleine | |
Seitentrieb des Arabischen Frühlings hier heißt – nicht mit anderen Ländern | |
vergleichbar war, stellt sich bei der Partizipationslust der Passanten | |
dennoch eine Ahnung ihrer kollektiven Dynamik ein. Allerdings sind die | |
Marrakescher mit ihrem weltbekannten und sagenumwobenen Geschichtenbasar, | |
dem zentralen Platz Djemaa el Fna, der seit 2001 zum immateriellen | |
Weltkulturerbe gehört, auch ein unvergleichlich erfahrenes und abgebrühtes | |
Publikum. Und da Seh- und Hörerfahrung eine wichtige Grundlage zum | |
Entfalten eigener Fähigkeiten liefern, sind sie auch da im Vorteil. | |
Das beweisen die Kinder einer normalen Primarschule aus eher kulturfernem | |
Milieu. Nach einer Woche Proben mit dem französischen Choreografen Bernardo | |
Montet und dem Musiker Dgiz zeigen sie der neugierigen Öffentlichkeit mutig | |
ihre so gewitzten wie dynamischen Interpretationskünste. | |
Die Abendveranstaltungen im schicken Institut Français und in der noch | |
schickeren Filmhochschule sind für das zahlreiche Publikum gratis. Möglich | |
ist das vor allem durch belgische und französische Partnerorganisationen | |
und Koproduzenten, die für die Vorstellungskosten aufkommen. Offizielle | |
Unterstützung von marokkanischer Seite gibt es nach acht Jahren immer noch | |
nicht. | |
## Europäische Steuergelder | |
Ohnehin wäre es wohl interessanter, wenn dem Festival der Coup gelingen | |
würde, sich auch unabhängig von staatlichen Förderungen zu entwickeln. | |
Europäische Steuergelder und postkoloniales Gewissen anzuzapfen ist | |
natürlich legitim, eine Legitimation unserer menschenrechtlich | |
zweifelhaften Wirtschaftskreisläufe und aggressiven Exportpolitik ist es | |
nicht. | |
„Rev’Illusion“ (ein Neologimus zwischen Traum, Illusion und Revolution) | |
heißt der Work-in-Progress-Beitrag von Taoufiq Izeddiou, dem | |
Festivalleiter. Darin liefern sich die vier TänzerInnen eine Badeorgie in | |
aufgelöstem Goldstaub, sodass sie am Ende wie saudi-arabisches | |
Inneneinrichtungsinventar aussehen. Wenn auf diese Art und Weise einem | |
zahlungsfähigen Publikum Lust auf den zeitgenössischen Tanz beigebracht | |
werden kann, wäre das übergangsweise natürlich auch eine Option. | |
7 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
## TAGS | |
Marokko | |
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Marrakesch | |
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