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# taz.de -- Auftakt des ersten Read!Berlin Festivals: Das syrische Volk schreit…
> Dima Wannous und Aboud Saeed berichten auf dem ersten Read!Berlin
> Festival von den Zuständen in ihrem Heimatland Syrien.
Bild: Bücherfreundin aus einem Trailer des Literaturfestivals Read!Berlin
„Der Paß“, sinniert einer der beiden Männer, die sich als Kriegsflüchtli…
in einer Wartehalle in Helsinki gegenübersitzen, „ist der edelste Teil von
einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein
Mensch“. Wie aktuell ein Dreivierteljahrhundert später die
„Flüchtlingsgespräche“ (1941) von Brecht noch sind, beweist das
Literaturfestival Read!Berlin, dass seinen Auftakt am vergangenen Freitag
unter die Schirmherrschaft der Brecht’schen Zwiegespräche stellte.
Das Read!Berlin findet dieser Tage zum ersten Mal statt. Bitte nicht noch
ein Festival, das sich der selbstreflexiven Lobhudelei an das Berliner
Lebensgefühl widmet, ist man verleitet zu denken, wenn man im Programmheft
an prominenter Stelle liest, das Festival wolle „die Stadt selbst zum Thema
haben“. Doch das städtische Leben wird hier offensichtlich eher als
kontextuelles Hintergrundrauschen betrachtet, denn als literarischer
Gegenstand.
Angesagt sind Veranstaltungen mit rund 40 Autoren, die inhaltlich zwei
Schwerpunkte umkreisen: Migration und die Digitalisierung des Alltags.
„Unser Festival soll politisch sein und philosophisch“, sagt Jörg
Braunsdorf, Mitinitator und Inhaber der Tucholsky-Buchhandlung im
Dunstkreis des Festivalgeländes rund um die Torstrasse. Am Eröffnungsabend
in der Kalkscheune dominiert Ersteres.
Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, vorwiegend jüngere Leute
sind gekommen, ins Deutsche flechten sich arabische und französische
Gesprächsfetzen. Dann ergreift Autor Christian Stahl („In den Gangs von
Neukölln“) das Wort, der gemeinsam mit Braunsdorf Read!Berlin ins Leben
gerufen hat. Bei seiner Ansprache wird deutlich, wofür das Ausrufezeichen
im Namen des Festivals stehen könnte: hier wird nicht lange palavert,
sondern der Rahmen des Abends unverblümt abgesteckt.
Sichtlich bewegt lässt Stahl seiner Empörung über das Handeln der EU
angesichts der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer freien Lauf. Mit Raed
Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD, ist er sich einig: Politisches
Handeln ist in dieser Situation wichtiger als die politische Diskussion.
Aber erst einmal soll gelesen werden.
## Beide Autoren verbinden viele Gemeinsamkeiten
Die beiden Autoren des Abends, Dima Wannous und Aboud Saeed, verbinden
viele Gemeinsamkeiten. Beide sind sie unter Dreissig, geflohen vor dem
Krieg in ihrem Heimatland Syrien, sie in den Libanon, er nach Berlin. Beide
haben sich entschieden, angesichts der Revolution in ihrem Heimatland nicht
zu Schweigen, sondern sie zum Anlass ihres Schreibens zu machen. Wannous
Buch „Dunkle Wolken über Damaskus“, vor acht Jahren erschienen, wurde im
letzten Herbst ins Deutsche übersetzt.
Sie habe damals versucht einen Querschnitt durch die syrische Gesellschaft
zu zeigen, sagt die Autorin und Journalistin im Gespräch mit dem
Literaturkritiker Thomas Böhm, der den Abend moderiert. Aus heutiger
Perspektive wirkt ihr Erzählband wie eine Prophezeiung. Die neun
Kurzgeschichten machen spürbar, wie zerrüttet und ausgehöhlt die syrische
Gesellschaft vor Beginn der Revolution gegen das Assad-Regime war. Durch
nüchterne Betrachtungen gibt Wannous einen Einblick in ein festgefahrenes
korruptes System, in dem Worte zu inhaltslosen Hülsen verkommen und niemand
sich um die Probleme der Anderen kümmert.
So auch in der Geschichte des Regierungsbeamten Fuâd, der dazu verdonnert
wird, eine Kommission für Armutsbekämpfung zu leiten. Als er das Problem
tatkräftig angehen möchte und von Veränderungen spricht, fallen seine
Untergebenen ihm in den Rücken und erklären ihn für wahnsinnig.
Erschreckend hellsichtig ist dieser Text, wenn man bedenkt, dass bei den
ersten Aufständen im Süden Syriens vor allem die arme Bevölkerung auf die
Straße ging.
Und schon ist man bei der zentralen Frage des Abends angelangt, nämlich der
Frage nach der Rolle der SchriftstellerInnen in einer Gesellschaft, deren
Alltag von Gewalt geprägt ist. Für Wannous gibt es keine Trennlinie
zwischen der Kunst und der Politik. „Es ist mein Beruf über die syrische
Bevölkerung zu schreiben“, sagt sie nach der Lesung, „und selbst wenn ich
keine Autorin wäre, hätte ich das Recht, von meinem Standpunkt aus für
andere zu sprechen.“
Aboud Saeed, der nach ihr auf dem Podium sitzt, sieht das anders. Am Anfang
seiner Karriere als Schriftsteller stand eine an ihn gerichtete Frage: „Was
denkst du gerade?“ Jeden Tag blickte ihm auf Facebook dieselbe
standardisierte Frage entgegen, also schickte er sich an, sie Tag für Tag
mit Anekdoten und Kommentaren zur Tagespolitik zu beantworten. Seine
digitale Kürzestprosa hatte bald auch außerhalb Syriens eine große
Fangemeinde.
## Der klügste Mensch auf Facebook
Saeed wollte „Der klügste Mensch auf Facebook“ sein, so auch der Titel des
Buches, in dem seine Statusmeldungen gesammelt abgedruckt wurden. Gegen
eine einseitige politische Vereinnahmung seiner Texte aber wehrt er sich.
„Wer bin ich, hier im Namen von Syrien zu sprechen?“, sagt Saeed im
Gespräch. Die Leute, die für die syrische Bevölkerung sprechen könnten,
säßen weder auf Podiumsdiskussionen noch auf Flüchtlingsbooten.
Sein Bruder, der noch immer in Syrien lebt, könnte das zum Beispiel besser.
Die Geschichten, die er schreibe, seien daher bloß die Stimme einer Person,
die ins Leere schreit: „So wie das gesamte syrische Volk heute in die Leere
schreit.“
Die beiden Lesungen des Abends könnten in ihrem Grundton unterschiedlicher
nicht sein. Nachvollziehen läßt sich das auch an der Art und Weise, wie die
Schauspieler die Textauszüge lesen: Harald Polzin („Tod den Hippies – Es
lebe der Punk!“) liest Wannous Geschichten getragen, macht immer wieder
Pausen, sucht den Kontakt zum Publikum und läßt die Sätze ihre Wirkkraft
entfalten.
Die leicht überdrehte Stimme von Schauspieler Denis Moschitto („Chiko“)
passt wiederum perfekt zu den kurzen Prosa-Häppchen von Saeed. Ein paar
Hundert Zeichen, in Sekundenschnelle getippt, denen die Zahl der Likes der
Leser stets auf den Fersen folgt und die kollektive Identifikation mit dem
Gesagten anzeigt. Im Publikum wird an vielen Stellen gelacht, während
Moschittos Blick auf dem Rednerpult haftet, als würde er die
unterschwellige Absurdität der Sätze eben gerade erst erkennen.
Die Spannung zwischen Wannous und Saeeds Texten und Aussagen machen den
Auftakt von Read!Berlin interessant. Aus dem Kontrast wird im Verlauf des
Abends deutlich, wie unterschiedlich die Zugänge zur eigenen Geschichte,
die sprachlichen Mittel und das Selbstverständnis als Autor trotz aller
Gemeinsamkeiten sein können. Zwei Positionen, die miteinander in einen
Dialog treten und am Ende angesichts der Gewalt in Syrien doch zu einer
Stimme der Menschlichkeit werden: Brecht hätte seine Freude gehabt.
26 Apr 2015
## AUTOREN
Mirja Gabathuler
## TAGS
Literatur
Revolution
taz lab 2024
Mittelmeer
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