| # taz.de -- Syrer in Deutschland: „Als wäre ich erst gestern gestorben“ | |
| > Zwischen Krieg und Bürokratie: In einer szenischen Lesung wird mit | |
| > eindringlicher und humorvoller Sprache das Leben eines syrischen | |
| > Emigranten erzählt. | |
| Bild: Feras Ghweri, Emily Dische-Becker und Paul Wollin auf dem taz.lab 2015. | |
| Feras Ghweri faltet einen Kranich. Geradezu desinteressiert sitzt er neben | |
| Paul Wollin und Emily Dische-Becker, die die Geschichte des Lebens weit weg | |
| der Heimat erzählen. Die Schatten des Krieges verfolgen den Geflüchteten | |
| bis nach Deutschland. | |
| Ein Freund aus Syrien ruft an. Es knattert im Telefon; nicht die Leitung | |
| ist schlecht, nein, am anderen Ende läuft ein Gefecht. Während des Kampfes | |
| um ein Haus entdeckte der Freund ein Telefon. Die Leitung steht und trägt | |
| den Krieg nach Deutschland. | |
| Alle schießen aufeinander, nicht mehr nur Syrer, nein, Afghanen, Iraker, | |
| Libanesen, sogar Deutsche. „Irgendwann sind alle Syrer tot”, sagt der | |
| Freund. Die anderen werden einfach weiterkämpfen. Und begonnen hat das | |
| Gemetzel mit denen, die die alte Ordnung über den Haufen werfen wollten. | |
| Das ist als Vorwurf gemeint an den, der in der Fremde sitzt und Assad | |
| ablehnt, aber nicht kämpft, weder für, noch gegen das Regime - ein | |
| Feigling. Er soll einfach vorbeikommen und anschauen, was die Revolutionäre | |
| angerichtet haben. An den Lärm immerhin gewöhne man sich. | |
| Der bildende Künstler Wasim Ghrioui, aufgewachsen in Damaskus und derzeit | |
| im deutschen Exil, hat in eindringlichen, humorvollen und poetischen Worten | |
| aufgeschrieben, was es heißt, die Auflösung eines Landes erst aus der Nähe, | |
| dann aus der Ferne zu beobachten. Unter der Regie von Nora Haakh wird die | |
| Ohnmacht deutlich, die alles transzendiert. | |
| Die Ohnmacht gegenüber der brutalen Zersplitterung der syrischen | |
| Gesellschaft, die bis in die Familien hineinwirkt: Scheidung, Verluste, das | |
| Nichtwissen, was mit Onkel A. oder Tante B. ist. „Seit Raqqa haben wir | |
| nichts mehr von ihnen gehört.” Raqqa, die Hauptstadt des Islamischen | |
| Staates, der auf den Trümmern Iraks und Syriens um die Vorherrschaft | |
| kämpft. | |
| Gegengeschnitten sind diese Bilder aus dem Kriegszustand mit dem surrealen | |
| Erleben deutscher Bürokratie. Vom ersten Tage an wird vom gerade dem Terror | |
| Entkommenen vollständiges Verstehen der deutschen Formalsprache erwartet. | |
| Als wenn er keine anderen Probleme hätte, muss er sich mit Formularen und | |
| Anträgen herumärgern und den ganz eigenen Rhythmus des unbestechlichen, | |
| kalten und unbeweglichen Beamtentums verstehen. | |
| Er rettet sich in Träume, versucht sich zu retten, denn wovon er träumt | |
| ist: Syrien. Er spricht mit dem Vater. Vor sieben Jahren ist der gestorben, | |
| fragt immer das selbe, bekommt geduldig die selben Antworten und seufzt | |
| immer wieder wenn er hört, dass schon 2015 sei. „Als wäre ich erst gestern | |
| gestorben”, sagt er und spricht für ein Land, dass nicht nur gestern | |
| gestorben ist, sondern heute stirbt und morgen wieder sterben wird, wenn | |
| nicht... Nein, Lösung bietet Wasim Ghrioui mit seinem Stück keine an. | |
| Was Ghrioui jedoch anbietet, ist eine Hilfestellung für jene, die in Syrien | |
| nur ein Mysterium, eine volatile politische Landkarte, unerklärliche | |
| Truppenbewegungen und Bündnisse sehen können. Denn so komplex die | |
| Entwicklung dort auch sein mag, jeder Ort, ob Homs, Aleppo oder Damaskus | |
| hat seine Geschichte und Geschichten in den Menschen, die dort leben und | |
| kämpfen. Jeden Tag aufs neue müssen sie sich die Frage nach der „richtigen�… | |
| Erinnerung und der „richtigen” Perspektive stellen. | |
| Diese Geschichten begleiten die Geflohenen in den Libanon, in die Türkei | |
| und nach Deutschland. Sie zu erzählen, ist das Verdienst Wasim Ghriouis. | |
| Die szenische Lesung des Stücks „Adapter” von Wasim Ghrioui mit Emily | |
| Dische-Becker, Paul Wollin und Feras Ghweri (Regie Nora Haakh) war Teil des | |
| Programms im taz.lab 2015, moderiert von Ines Kappert. | |
| 25 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniél Kretschmar | |
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| Schwerpunkt Syrien | |
| Literatur | |
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