# taz.de -- Testwahn in US-Schulen: Von Strebern zu Outlaws | |
> In den USA müssen Lehrer wegen Notenmanipulationen ins Gefängnis. Das | |
> befeuert eine Debatte über Tests. Firmen verdienen damit Milliarden. | |
Bild: Schulfrei: Vor Gericht forderten Unterstützer die Freilassung der Lehrer. | |
WASHINGTON taz | Schummeln Schüler während eines Tests, gilt das als | |
Betrugsversuch und die Prüfung als nicht bestanden. Im Bundesstaat Georgia | |
in den USA müssen Lehrer, Schulinspektoren und Direktoren wegen Betrugs | |
wohl für einige Jahre ins Gefängnis. | |
Sie hatten Schülern die richtigen Antworten für Multiple-Choice-Tests | |
gegeben und falsch ausgefüllte Fragebögen nachträglich „korrigiert“. Anf… | |
April wurden sie deswegen verurteilt – und außerdem wegen Korruption und | |
Schutzgelderpressung; Straftatbestände die gewöhnlich für Gangster | |
reserviert sind. | |
Die Verurteilten waren an insgesamt 44 öffentlichen Schulen, mit mehr als | |
50.000 Schülern in Atlanta, der Hauptstadt von Georgia tätig. Insgesamt | |
sollen über 170 Lehrer einige Jahre lang daran beteiligt gewesen sein, die | |
Testergebnisse für ihren Schulbezirk zu frisieren. Die Hauptangeklagte, die | |
Chefin des Schulbezirks Beverly Hall, starb noch vor der Urteilsverkündung | |
im März an Krebs. Elf Pädagogen wurden schließlich zu jahrelangen | |
Haftstrafen verurteilt. | |
Bei der Urteilsverkündung wetterte Richter Jerry Baxter: „Dies war kein | |
Verbrechen ohne Opfer. Es gibt Kids, die nicht lesen können.“ Es ist einer | |
der größten Schulskandale in den USA, und er ist noch lange nicht beendet. | |
Denn nicht nur das harte Urteil sorgte landesweit für Aufsehen. Die | |
massenhaften Manipulationen lösten auch eine Diskussion über die Testkultur | |
in den USA aus. | |
## Unsere Schüler sind übertestet und unterschult | |
Offiziell sollen standardisierte Tests das Leistungsniveau in den | |
öffentlichen Schulen verbessern. Seit Anfang des vergangenen Jahrzehnts | |
werden sie landesweit für Schüler sämtlicher Altersklassen angewandt. Bei | |
guten Testergebnissen gibt es Prämien für Schulen und Lehrer. Auch die | |
verstorbene Hall hatte noch 2009 eine Auszeichnung als „beste | |
Superintendentin“ der USA erhalten. | |
In Washington organisierte die damalige Chefin der Schulbehörde, Michelle | |
Rhee, öffentliche Zeremonien zur Bekanntgabe der Testergebnisse. Dabei | |
verteilte sie Boni bis zu 10.000 Dollar an Schulen mit guten Ergebnissen. | |
Bei schlechten Ergebnissen drohen Schulen jedoch Sanktionen. In ihrer | |
dreijährigen Amtszeit feuerte Rhee Hunderte Lehrer und schloss 23 Schulen. | |
Gewerkschaften und Eltern protestierten gegen Rhees buchhalterische | |
Schulpolitik und gegen das Klima der Angst, das sich unter ihrer Führung an | |
den Schulen ausbreitete. Als Ende 2010 ein neuer Bürgermeister kam, musste | |
Rhee gehen. | |
Auch in Washington gab es Anzeichen dafür, dass Schulen die Testergebnisse | |
manipulierten. So kamen Anfang des Jahrzehnts auffällig viele Fragebögen | |
zurück, auf denen nachträglich die Antworten korrigiert worden waren. | |
Überraschend waren auch die guten Testergebnisse an Schulen mit niedrigem | |
Leistungsniveau. Doch anders als in Atlanta brachte die Schulbehörde der | |
US-Hauptstadt die Sache nie vor ein Gericht. | |
„Unsere Schüler sind übertestet und unterschult“, sagen Kritiker. Die | |
landesweiten Tests in Englisch und Mathematik sorgten für unnötigen Stress | |
bei Schülern und Lehrern, schadeten der Unterrichtsqualität und seien | |
sowohl sozial als auch ethnisch ungerecht. Die über eine Milliarde Dollar, | |
die jährlich für die Entwicklung der Tests an private Unternehmen gingen, | |
sollten sinnvoller in Lehrer, Unterrichtsmaterial und Schulen investiert | |
werden. | |
## Zehntausende Eltern boykottieren die Tests | |
Doch sowohl Republikaner als auch Demokraten befürworten die | |
standardisierten Tests mehrheitlich. Der republikanische Präsident George | |
W. Bush hatte die Prüfungen im Jahr 2002 unter dem Namen „No Child Left | |
Behind“ (Kein Kind zurücklassen) eingeführt. Sein demokratischer Nachfolger | |
Barack Obama setzte das Programm unter dem Namen „Race To The Top“ | |
(Wettlauf nach oben) fort. | |
Nachdem zunächst die Gewerkschaften gegen den Testwahn protestierten, | |
schließen sich zunehmend auch Eltern der „Opt-out-Bewegung“ an. Sie wenden | |
sich an die Schulen und erklären schriftlich, dass sie keine Teilnahme | |
ihrer Kinder wünschen. Im Bundesstaat New York, wo die Opt-out-Bewegung am | |
stärksten ist, blieben im vergangenen Jahr 60.000 Schüler den Tests fern. | |
In den zurückliegenden Wochen – April ist traditionell der Monat für | |
standardisierte Tests – haben nach Einschätzung der Opt-out-Bewegung | |
mindestens 200.000 Schüler in New York die Tests boykottiert. In manchen | |
New Yorker Schulen gab es mehr Boykotteure als Teilnehmer. | |
Neben progressiven Eltern beteiligen sich auch konservative. „Wir brauchen | |
bessere Methoden und einen transparenten Prozess, an dem Lehrer und Eltern | |
beteiligt sind“, begründet der Republikaner Rob Astorino im Westchester | |
County, nördlich von New York City, das Opt-out seiner Kinder. | |
Die Mutter Liza Featherstone übt grundsätzliche Kritik. „Diese Tests | |
organisieren Schulen nach einem Marktsystem. Sie schaffen Gewinner und | |
Verlierer“, sagt sie. Ihr neunjähriger Sohn geht im New Yorker Stadtteil | |
Brooklyn auf die New School, wo in diesem Jahr 95 Prozent der Kinder den | |
standardisierten Tests fernblieben. Featherstone ist keineswegs | |
grundsätzlich gegen schulische Prüfungen. Sie störe aber die „Kontrolle und | |
Disziplinierung von Schulen und Lehrern“. | |
Standardisierte Tests sind geheimnisumwittert. Lehrer und Eltern erfahren | |
nicht einmal, welche Fragen den Kindern in den Multiple-Choice-Fragebögen | |
gestellt werden, und sie erhalten auch die Testergebnisse erst viele Monate | |
später. | |
In Fairport im Norden des Bundesstaats New York, wo 67 Prozent der Schüler | |
die Tests boykottiert haben, kritisiert William Cala, Chef der örtlichen | |
Schulbehörde: „Eine Evaluierung ist dann nützlich, wenn wir sie in ein | |
unmittelbares Feedback umsetzen können.“ Und die Vizepräsidentin der | |
Gewerkschaft New York State United Teachers, Catalina Fortino, begründet: | |
„Wenn Lehrer weder Fragen noch Antworten kennen, können sie die Tests nicht | |
im Unterricht einsetzen, um Kinder zu fördern.“ | |
## Alle angeklagten Lehrer sind schwarz | |
Unterdessen hat Richter Baxter im Bundesstaat Georgia offenbar kalte Füße | |
bekommen. Noch bevor die Verteidiger der verurteilten Lehrer Widerspruch | |
einlegen konnten, hat er selbst einen neuen Gerichtstermin für diesen | |
Donnerstag angesetzt. Er will die Urteile erneut erörtern. | |
Auch prominente schwarze Bürgerrechtler hatten gegen die harten Strafen | |
protestiert. Denn in dem Gerichtssaal in Atlanta setzte sich ein | |
Hautfarbendrama fort, das bis heute die Schullandschaft in der Stadt | |
bestimmt: Segregation. Alle Angeklagten sind schwarz. Und in den | |
öffentlichen Schulen, in denen sie früher arbeiteten, sind Kinder aus | |
afroamerikanischen Familien überrepräsentiert. | |
Andrew Young, in den 60er Jahren Bürgerrechtler und später Bürgermeister | |
von Atlanta, bat den weißen Richter um „Milde“. Hingegen meint der | |
gegenwärtige Bürgermeister von Atlanta, Kasim Reed, ebenfalls ein | |
Afroamerikaner: beim Schummeln sind strenge Strafen nötig. | |
1 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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