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# taz.de -- Kommentar zu Organvergabe-Urteil: Schluss mit dem feigen Wegschauen
> In der Transplantationsmedizin gibt es zu wenig demokratisch legitimierte
> Regeln. Die Politik muss für Transparenz bei der Vergabe sorgen.
Bild: Es gibt zu wenig Spenderorgane für zu viele kranke Menschen.
Ärzte haben Patienten bevorzugt und andere benachteiligt. Ärzte haben
Labordaten gefälscht, Urin in Blutröhrchen gemischt, Dialysen vorgetäuscht.
Ärzte haben eigenmächtig entschieden – über die Zukunft schwerkranker
Menschen: Die Manipulationen bei der Vergabe lebensrettender Spenderorgane
an mehreren deutschen Transplantationskliniken beherrschten im Sommer 2012
wochenlang die Schlagzeilen, sie sind einer der größten Medizinskandale der
Bundesrepublik.
Am Mittwoch ist vor dem Landgericht Göttingen der Prozess gegen den
ehemaligen Chirurgieprofessor Aiman O. zu Ende gegangen – mit einem
Freispruch. Versuchter Totschlag in elf Fällen? Nicht nachweisbar. Dreimal
Körperverletzung mit Todesfolge? Nicht belegbar. War die ganze Aufregung
also umsonst? Ist die Staatsanwaltschaft – mit ihrer Anklage hatte sie
juristisches Neuland betreten – einem riesigen Irrtum aufgesessen? Hätte
man sich die bald einjährige Untersuchungshaft und das sich anschließende
Mammutverfahren, 20 Monate, 101 Zeugen, 9 Sachverständige, sparen können?
Mitnichten. Denn dass es Manipulationen gegeben hat, steht nun außer Frage.
Viele von ihnen waren widerwärtig – aber zum damaligen Zeitpunkt nicht
strafbar. Und das ist das eigentliche Verdienst dieses Prozesses: Er hat
akribisch die Krise beleuchtet, die die Transplantationsmedizin in
Deutschland überwinden muss, will sie das Vertrauen der Bevölkerung nicht
länger erschüttern und damit schwerstkranken Patienten nicht weiter
schaden; die mangelnde Strafbarkeit ist dabei nur ein Baustein.
Die Transplantationsmedizin leidet – und das macht ihre absolute
Sonderstellung innerhalb der Medizin aus – an einem eklatanten
Ressourcenmangel. Es gibt zu wenig Spenderorgane für zu viele kranke
Menschen. Wer also soll leben? Wer sterben? Diese Frage ist eine der
brutalsten, die eine Gesellschaft beantworten muss. Aber: Es geht hier um
Verteilungsgerechtigkeit und eben nicht um eine rein medizinische
Angelegenheit. Doch als solche wird die Organverteilung in Deutschland
immer noch gehandelt.
## Blitzschnelle Entscheidungen sind gefragt
Es mangelt, auch das hat das Göttinger Verfahren gezeigt, an
wissenschaftlich nachvollziehbaren, juristisch überprüfbaren und vor allem:
demokratisch legitimierten Regeln. Bezeichnenderweise hat der Vorsitzende
Richter den bisherigen pauschalen Ausschluss einer ganzen Patientengruppe –
alkoholkranker Menschen – von Transplantationen „verfassungswidrig“
genannt. Für die Organermittler andernorts – auch in Leipzig, Regensburg
und München stehen Transplantationsmediziner unter Verdacht – dürfte auch
diese Aussage Signalwirkung haben.
Und für die schwerkranken Menschen auf der Warteliste? Bleibt die Hoffnung,
dass der Göttinger Prozess zumindest so viel Aufmerksamkeit erregt hat,
dass die Politik ihre feige Wegschauhaltung endlich aufgibt. Derzeit haben
Patienten, die bei der Organverteilung leer ausgehen, nicht einmal die
Möglichkeit, gegen die Entscheidung ihrer Ärzte oder der für die Vergabe
verantwortlichen Stiftung Eurotransplant zu klagen: Es fehlt an einer
Gerichtsbarkeit, die nicht bloß zuständig ist, sondern ihre Entscheidungen
in einem für vom Tod bedrohte Menschen akzeptablen Zeitrahmen verkündet:
blitzschnell.
Das ist noch nicht alles: Diejenigen, die die Richtlinien für die
Organvergabe derzeit in Hinterzimmerzirkeln der Bundesärztekammer
auskungeln, sind hierzu gar nicht befugt. Normative Entscheidungen dürfen
nicht länger einer ressentimentgeladenen Berufsorganisation überantwortet
werden, sondern obliegen dem Gesetzgeber. Gebraucht wird ein unabhängiges,
transparent agierendes Gremium, das nicht nur kontrolliert, sondern auch
selbst kontrollierbar ist. Und das sich neben belastbaren Kriterien einer
gerechten Verteilung auch dafür interessiert herauszufinden, welche Organe
überhaupt wem und warum und zu welchem Zeitpunkt wie viel nutzen – oder
auch nicht. Denn auch daran krankt die Transplantationsmedizin in
Deutschland: Ihre tatsächliche Qualität ist bislang weitgehend unerforscht.
Aiman O. verlässt das Gericht zu Recht als freier Mann. Für das System der
Transplantationsmedizin und seine Verantwortlichen indes ist das Ende des
Göttinger Verfahrens alles andere als ein Freispruch.
6 May 2015
## AUTOREN
Heike Haarhoff
## TAGS
Organspende-Skandal
Organspende
Organtransplantation
Gesundheit
Transplantation
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